Feldpost
Der intensive Austausch von Feldpost stellte für viele katholische Jugendliche ein wichtiges „gemeinsames Band“ dar, das sie fest miteinander verband und ihnen auch über große Entfernungen und trotz langer Phasen des Getrenntseins einen intensiven Austausch ermöglichte. Soziale Gebilde wie Ehen, Beziehungen, Familien oder Freundschaften sind nicht zuletzt durch Kommunikation bestimmt. Während die Inhalte solcher Alltagsgespräche in „normalen“ Zeiten aber in aller Regel verloren gehen, wurden sie unter den spezifischen Kommunikationsbedingungen des Krieges dauerhaft auf Papier festgehalten und somit sozusagen konserviert: Der Klatsch und Tratsch der Familie ebenso wie Schilderungen der Arbeit, die Aufzählung von Besorgungen, aber auch das Private und Intime und - nicht zu vergessen – die Not und das Elend des Krieges, denn der Feldpost-Brief war das einzige Medium der Individualkommunikation, das Soldaten mit ihrem familiären und sozialen Umfeld zu Hause verband. [1]
Die ungezählten Briefe, die zwischen Heimat und Front gewechselt wurden, dienten daher nicht nur der Berichterstattung, sondern stellten eine Art „Kitt“ der Kriegsgesellschaft dar, deren Alltags-Kommunikation sie abbilden. Daher liegt ihr zentraler Quellenwert nicht etwa darin, dass sich mit ihrer Hilfe historische Ereignisse rekonstruieren ließen, denn die konnten weder die Frontsoldaten noch deren Familien und Freunde an der „Heimatfront“ in ihrer Komplexität und Bedeutung erfassen oder gar beurteilen. Die Briefe geben aber oftmals tiefe und nicht selten auch anrührende Einblicke in das Befinden der Betroffenen, in die Auseinandersetzungen und Diskurse des täglichen Lebens und die jeweils individuell erlebten direkten und indirekten Auswirkungen des Krieges. Insbesondere bei katholischen Korrespondenzpartnern zählte die Verfasstheit ihrer Kirche, deren Ausrichtung und Auftreten (Liturgiereform!) sowie das Schicksal der katholischen Aktivisten nach Kriegsende zu zentralen Themen, über die ein oft sehr reger Austausch stattfand.
Und das alles geschah in einer zumeist existenziell bedrohlichen Situationen: Auf unbestimmte Zeit getrennt von Angehörigen und Freunden und unter oftmals großen körperlichen und psychischen Entbehrungen und Strapazen, häufig zugleich im Bewusstsein der Möglichkeit des eigenen gewaltsamen Tötens und Sterbens sprachen Menschen über sich und ihre Umgebung.[2] Dass das alles unter dem Damoklesschwert der Briefzensur geschah, ließ einige vorsichtig-zurückhaltend schreiben, während andere, zumal nach dem Durchleben existenziell bedrohlicher Situationen, ihrer Erschütterung, Wut oder Angst freie Lauf ließen.[3]
Clemens Schwender und Jens Ebert sprechen mit Blick auf die Inhalte von Feldpostkorrespondenzen von den „vier Welten“, die sich darin mitteilen konnten. Knapp zusammengefasst verstehen sie hierunter:
1. Die Welt der Front
Dies war die Welt des Soldaten und die, die aus vielen Gründen sicher am schwersten zu vermitteln und am ehesten von Zensur bestimmt war. Betroffen waren in erster Linie nicht ideologische Äußerungen, sondern zunächst sollten militärisch sensible Daten geheim gehalten werden, falls die Post in Feindeshand fallen sollte.
2. Die Welt der Heimat
Die Briefe aus der Heimat waren weniger von Zensur bestimmt. Zwar wurden auch sie stichprobenartig kontrolliert, doch es gab militärisch im Grunde nichts zu verbergen, die Angriffe durch alliierte Bomber waren offensichtlich.
3. Vergangenheit und Zukunft
Beziehungen, die über briefliche Kommunikation aufrechterhalten werden, haben eine Vergangenheit und eine erhoffte Zukunft. Da sich Partnerschaften über Kommunikation bestimmen, dient diese dazu, die Trennung zu überbrücken. Die Erinnerungen an gute alte Zeiten und die Hoffnungen auf bessere werden als Argumente genutzt, Freundschaft und Liebe trotz der derzeitigen Trennung nicht aufzugeben.
4. Propaganda und Medien
Medienereignisse waren neben den seltenen Urlauben die einzige Möglichkeit, aktuell Gemeinsames zu erleben und von den getrennten Welten an Front und Heimat unabhängige Erfahrungen zu teilen. Spielfilme liefen nicht nur in den Kinos der Heimat, sondern dienten auch Soldaten zum Zeitvertreib und der Zerstreuung. Zeitungen, Zeitschriften und Bücher konnten überall hin verschickt werden und wurden von den Soldaten begierig aufgenommen. Die Teilnahme am öffentlichen Diskurs war somit möglich. Das Radio war das einzige Live-Medium, das an allen Abschnitten der Front und zu Hause zeitgleich gehört werden konnte.[4]
Der Blick auf diese verschiedenen „Welten“ lässt zugleich das Potenzial erahnen, das der Quelle „Feldpost“ innewohnt und das es für die Forschung gewinnbringend zu nutzen gilt, um das Verständnis für die Geschehnisse während des Zweiten Weltkrieges zu erhöhen. So sind zwar dessen Fakten hinlänglich bekannt, das Innenleben der am Kriegsgeschehen beteiligten Menschen aber entzieht sich bislang in weiten Teilen noch immer unserem Blick. Eine Analyse dieses Innenlebens hängt aber von einer einen längeren Zeitraum abdeckenden kontinuierlichen Quellenbasis ab, zu der nicht zuletzt Feldpostkorrespondenzen einen gewichtigen Teil beisteuern. Nur auf solch serieller Grundlage können über die bloße Momentaufnahme einzelner Briefe hinaus Aussagen über die – sich im Kriegsverlauf eventuell wandelnde - Mentalität der Verfasser gewonnen werden.[5]
Sämtliche hier skizzierten „vier Welten“ spielten natürlich auch in den hiermit zugänglich werdenden Briefwechseln junger Katholik*innen eine zentrale Rolle. Die briefliche Kommunikation bot ihnen an Front und „Heimatfront“ die Möglichkeit, sich über Alltägliches und Besonderes auszutauschen, sich im privaten Bereich der gegenseitige Liebe oder Zuneigung zu versichern, aber auch Zukunftspläne zu schmieden oder philosophische und theologische Fragen zu diskutieren. Oftmals waren die Briefe auch das einzige Ventil, um Verzweiflung und Angst zum Ausdruck bringen oder um überhaupt – wenn auch mit jeweils großer zeitlicher Verzögerung – vergleichsweise offen mit jemandem „sprechen“ zu können, den man von seiner Einstellung auf seiner Seite wusste. Daher kam dieser Möglichkeit persönlicher Artikulation gerade für jene eine oftmals ungeheuer große Bedeutung zu, die dem NS-Regime kritisch gegenüberstanden und sich dadurch in ihren Entfaltungsmöglichkeiten oftmals stark eingeschränkt oder gar bedroht sahen. Für sie war die Feldpostkorrespondenz oftmals das zentrale Mittel der Selbstvergewisserung, fühlte man sich dadurch doch einer Gruppe zugehörig, was zumindest partielle Sicherheit suggerierte.
Obwohl sie für die Jahre zwischen 1939 und 1945 mittlerweile als „eine der wertvollsten Quellen für die gesellschaftlichen Innenansichten einer aus den Fugen geratenen Zeit“, als „einzigartige Quelle des Alltäglichen in der Ausnahmesituation des Krieges“ und als ein zentrales, wenn nicht gar als wichtigstes erfahrungsgeschichtliches Zeugnis des Zweiten Weltkriegs eingeschätzt wird, wurde die Bedeutung der Feldpost als historische Quelle von vielen Wissenschaftsdisziplinen erst vergleichsweise spät in den 1980er Jahren erkannt.[6] Insbesondere geschlossene Quellenkörper, die exemplarische und erfolgversprechende Untersuchungen erlauben, haben nach wie vor Seltenheitswert, weil zahlreiche Briefkonvolute ebenso wie ihre Autoren den Krieg nicht überstanden haben oder nach wie vor und für die Forschung unzugänglich auf privaten Dachböden liegen. Folge ist, dass sie bis heute erst in Ansätzen für die historische Forschung zugänglich oder gar erschlossen sind, denn Feldpostbriefe und verwandte Selbstzeugnisse (z.B. Tagebücher) aus dem Zweiten Weltkrieg werden – mit Ausnahme des „Feldpost-Archivs“ in Berlin[7] - bislang kaum systematisch in öffentlichen Dokumentationsstellen archiviert. Der größte Teil solcher wichtigen Materialien ist nach wie vor in privaten Haushalten zu finden und dort ständig von der Gefahr bedroht, bei nächster Gelegenheit unwiederbringlich entsorgt zu werden. Erst (viel zu) langsam reift das Bewusstsein, dass diese exklusiven Quellen gerettet werden müssen[8], wozu das NS-Dokumentationszentrum im Allgemeinen und dieses Projekt im Besonderen einen erheblichen Beitrag leisten möchten.
[1] Vgl. Clemens Schwender/Jens Ebert: Feldpost im Zweiten Weltkrieg. Quod non est in actis, non est in mundo; in: Das Archiv. Magazin für Post- und Telekommunikationsgeschichte, Heft 4/2009, S. 86-105 (gekürzt unter: http://www.feldpost-archiv.de/02-einleitung.shtml) und Clemens Schwender: Feldpost als Medium sozialer Kommunikation; in: Didczuneit, Veit/Ebert, Jens/Jander, Thomas (Hgg.): Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, S. 127-138 (gekürzt unter: http://www.feldpost-archiv.de/08-x-tagung2010.shtml)
[2] Vgl. Astrid Irrgang: Feldpost eines Frontsoldaten; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", 14-15, 2. April 2007, 41-46, S. 41
[3] Einführend zum Aspekt der Zensur vgl. https://jugend1918-1945.de/portal/Jugend/info.aspx?bereich=projekt&root=19738&id=21255&redir=
[4] Vgl. Schwender/Ebert, Feldpost. Dort werden die einzelnen „Welten“ ausführlicher vorgestellt.
[5] Vgl. Irrgang, Feldpost, S. 42
[6] Einführend http://www.feldpost-archiv.de/02-einleitung.shtml
[7] Vgl. http://www.feldpost-archiv.de/feldpost-d.html
[8] Vgl. Schwender/Ebert: Feldpost und Jörg Echternkamp: Kriegsschauplatz Deutschland 1945. Leben in Angst – Hoffnung auf Frieden. Feldpost aus der Heimat und von der Front, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Paderborn 2006, S. 5