Vorkriegszeit

Als 1933 die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, wurde auch die katholische Jugend umgehend mit dem Totalitätsanspruch der Hitlerjugend konfrontiert. Anders als ihrem evangelischen Pendant gelang es ihr zunächst, eine weitgehende Unabhängigkeit zu wahren. Hierbei half insbesondere das im Juli 1933 unterzeichnete Reichkonkordat, das die katholischen Jugendverbände von einer völligen „Gleichschaltung“ ausnahm und ihnen einen Sonderstatus einräumte; sie durften bis auf weiteres in ihrer alten Form fortbestehen.

Am 11. Juli 1933 reagierte die Führung des Katholischen Jungmännerverbandes (KJMV) per Rundschreiben an alle Vereine auf den Abschluss des Konkordats. „Eine schwierige Zeit liegt hinter uns“, hieß es darin, die durch das „starke Führerwort des Kanzlers“ und den Abschluss des Konkordats nunmehr hoffentlich ihr Ende gefunden habe. „Die Tätigkeit des Verbandes konnte im vollen Umfang wieder aufgenommen werden.“ Zugleich wurde den KJMV-Mitgliedern mitgeteilt, dass auch der Reichsjugendführer den HJ-Angehörigen „jede Belästigung von Angehörigen anderer Jugendbünde“ untersagt und bei Zuwiderhandeln mit Bestrafungen gedroht habe.[1] All das aber hatte seinen Preis, den zu zahlen die Verantwortlichen des KJMV offenbar in voller Höhe bereit waren, wie sie in einem „ganz ernsten Wort an alle Führer, Präsides und Jungführer im Land“ darlegten: „Im politischen Leben und Denken und Ringen der Gegenwart müssen wir unsere Jungen zu einer ganz klaren, positiven Haltung im neuen Staat und unter der neuen Staatsführung erziehen. (…) Wir halten uns als Jugend der Kirche streng an die Weisungen der Kirche und als deutsche Jugend streng an die Ordnungen des Staates.[2] Um die Auslegung der konkreten Bestimmung des Konkordats kreisten dann in den Folgejahren zahlreiche Auseinandersetzungen mit den Nationalsozialisten.

Die Überwachungsorgane des NS-Regimes zeigten sich über Stärke und Struktur der katholischen Jugendbewegung gut informiert, wie aus einem „Das katholische Vereinswesen: Die Organisation der katholischen Jugendvereine“ betitelten Sonderbericht hervorgeht, den der Sicherheitsdienst der SS im September 1935 vorlegte.[3] Der KJMV, so war dort zu lesen, umfasste im Jahr 1933 rund 365.000 Mitglieder, die sich auf insgesamt 6.110 Vereine aufteilten. Etwas mehr als 252.000 der Mitglieder waren bis 18 Jahre alt und fielen damit in die Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen, um die auch die Hitlerjugend warb.

Das Schwergewicht der katholischen Jugendarbeit lag eindeutig im Westen des Deutschen Reiches, wo etwa zwei Drittel der Mitglieder des KJMV beheimatet waren. Hier stachen wiederum die Diözesen Köln, Münster, Paderborn und Trier heraus. Allein im Erzbistum Köln zählte der Dachverband fast 50.000 Angehörige, von denen 13.000 der Alterskohorte bis zum 14. Lebensjahr angehörten.[4] Die wichtigsten Jugendverbände unter dem KJMV-Dach waren die Sturmscharen, die Ende 1933 reichsweit etwa 23.000 Mitglieder in 1.597 Gruppen zählten, und die erst 1931 in den Gesamtverband aufgenommenen St. Georgs-Pfadfinder (DSPG) mit nahezu 12.800 Mitgliedern in 448 Stämmen. Bei den Pfadfindern stand das Bistum Köln mit fast 3.100 Angehörigen reichsweit deutlich an der Spitze, gefolgt von Aachen mit 1.800. Auch der 1919 in Köln ins Leben gerufene „Bund Neudeutschland“, dessen sich aus Schülern rekrutierender „Jüngerenbund“ 1932 insgesamt 21.441 Gymnasiasten zählte, hatte mit rund 1.200 Mitgliedern an 18 Gymnasien hier seinen eindeutigen Schwerpunkt.[5] Eine die einzelnen Verbände übergreifende Plattform stellte die 1920 gegründete Sportorganisation „Deutsche Jugendkraft“ (DJK) dar, in der die gesamte Sport treibende katholische Jugend unter dem Dach des KJMV organisiert war. 1932 zählte die DJK rund 255.000 Mitglieder.[6]

Der zumindest zahlenmäßig machtvoll erscheinende KJMV fügte sich, wie ja bereits 1933 deutlich bekundet, in die Vorgaben von NS-Regime und Hitlerjugend, was ihn dennoch nicht davon verschonte, nach zahlreichen Repressalien und Einschränkungen 1938/39 schließlich mit all seinen Untergliederungen endgültig verboten zu werden.

Die Verbände verschwanden, die Jugendlichen aber blieben und mit ihnen auch ihre Überzeugungen. Damit schlug die Stunde der Pfarrjugend, der pastoral orientierten Jugendseelsorge innerhalb der Gemeinden, die ihren Legalitätsstatus mit einer rein „kirchlichen Arbeit mit Jugendlichen" erkaufte. Immer mehr von ihnen sahen den einzigen Ausweg aus ihrer zunehmend bedrängten Lage im Rückzug auf die Seelsorge im engeren Sinne.[7] Diesen Weg hin zur rein religiös orientierten Pfarrjugend hatten die deutschen Bischöfe mit ihren „Richtlinien für die katholische Jugendseelsorge“ bereits im April 1936 gewiesen. Dadurch ging die bislang von den Verbänden wahrgenommene Verantwortung für die katholische Jugendarbeit auch formal endgültig auf die einzelnen Pfarrgemeinden über, in denen so genannte „Kernscharen" gebildet werden sollten. Die Verantwortung für die Jugendarbeit lag damit künftig vollkommen in der Hand der örtlichen Pfarrer, von denen - so darf zumindest mit guten Gründen angenommen werden - in den Jahren zuvor nicht wenige der erfolgreichen katholischen Verbandsjugendarbeit eher skeptisch gegenübergestanden hatten. Für viele der zuvor so engagiert in den Verbänden aktiven Jugendlichen musste das enttäuschend sein, wirkten die bischöflichen Vorgaben doch wie eine Kapitulation vor der NS-Bewegung und zogen zudem ein weiteres Abrücken von jeglicher Form „bündischen“ und jugendbewegten Lebens nach sich.

Der seitens der Amtskirche intendierte Wandel in der Jugendarbeit wurde in einem Schreiben von KJMV-Reichsobmann Albert Steiner verdeutlicht. „In der gegenwärtigen Zeitstunde“, so hieß es dort, „brauchen wir mehr stille, beharrliche Kleinarbeit und vor allem eine ganz tiefe Fundamentierung im Religiösen! Die Tage, an denen die priesterlichen Führer zusammenkommen, müssen Tage einer ganz besonderen Arbeit an einer neuen Priestergeneration sein. Und die Abende, an denen Sie Ihre Jungführer um sich sammeln, sollen wirklich Grundlagen legen für eine Schule des Glaubens, die uns Führer zurückgibt, die den Auftrag Christi verstehen.“ Das klang weder jugendbewegt noch standhaft-kämpferisch, sondern läutete den endgültigen und totalen Rückzug katholischer Jugend in die Sakristeien ein und stürzte viele der bisherigen Aktivisten in tiefe Resignation. Kirchliche Jugendarbeit jedenfalls beschränkte sich fortan auf das Angebot von Exerzitien und Einkehrtagen, Feierstunden und Singkreisen im kirchlichen Raum. Die in den Jahren 1938/39 dann verfügten endgültigen Verbote der ehemals so stolzen, unter dem Dach des KJMV zusammengeschlossenen Jugendverbände spielten wohl nur noch eine nachgeordnete Rolle.

Viele der Jugendlichen werden damals ähnlich empfunden haben wie der Neudeutsche Willi Strunck, der am Abend des 1. Juli 1939 in sein – im Projektkontext nunmehr zugängliches - Tagebuch notierte: „Diesen 1.Juli werde ich nicht mehr vergessen können. Der Bund ist aufgelöst! (…) Jetzt, wo ich schon im Bett liege und dies aufschreiben will, kommt mir das erst so richtig zu Bewußtsein, daß der Bund aufgelöst ist, daß er offiziell erschlagen ist. Nun kommen auch mir die Tränen und ich glaube, daß es so in Ordnung ist. (…) Der letzte Händedruck war dann auch mehr als ein Abschied, und der unter Tränen lachende Blick gelobte Treue! Treue! Jetzt besondere Treue. Der Bund lebt! Er lebt in unseren Herzen, und da kann ihn keiner verbieten oder auflösen. (…) Wenn Gott mit uns ist, wer kann dann wider uns sein!“ Enttäuschung und tiefe Trauer kamen hier zum Ausdruck, aber kein Aufbegehren oder gar Nachdenken über aktive Gegenwehr. Die dominierende Stimmung selbst unter den aktivsten Angehörigen der katholischen Jugendbewegung fasste Willi Strunck vier Tage später in folgende Verse:

„Rollt eure Fahnen um den Schaft
Und geht wie stumme Boten.
Die Macht ist über unsre Kraft,
Die Macht hat es geboten.
Die Straße frei, der Lärm vergeht,
Wir ziehen in die Stille.
Und wenn auch keine Fahne weht,
Es bleibt uns doch der Wille.
Wir wollen Deutschland, und wir mahnen
Das Volk an seine Kraft.
Nun sind Gesichter unsre Fahnen
Und Leiber unser Schaft.“
[8]

Fußnoten

[1] Eine solche Anweisung erging auch von Seiten des als Obergebietsführer West der Hitlerjugend in Köln amtierenden Hartmann Lauterbach, der am 12. Juli 1933 eine Sonderanordnung für das Gebiet Köln-Aachen herausgab, in der er weitere Übergriffe auf konfessionelle Jugendverbände streng untersagte und die Rückgabe zuvor beschlagnahmten Eigentums anordnete. (Vgl. StAB, Pr 40/214 (Teil 2) und AEK, Gen. I, 23.11,4, Teil 2)

[2] Vgl. dazu AEK, Gen. II, 23.11.1b: Rundschreiben an Präsides und Präfekten, 11.7.1933.

[3] Der komplette Bericht ist abgedruckt bei Heinz Boberach (Bear.): Berichte des SD und der Gestapo über Kirchen und Kirchenvolk in Deutschland 1934-1944, Mainz 1971, S. 118-152.

[4] In einem Rundschreiben sprach der Kölner Kardinal Schulte im März 1932 von rund 62.000 KJMV-Angehörigen im Einzugsbereich seines Diözesanverbandes. Den Rückgang bis Ende 1933 führte selbst die Gestapo nicht auf abnehmende Attraktivität der katholischen Jugendverbände zurück, sondern auf den weitgehenden Ausfall der Geburtsjahrgänge zwischen 1915 und 1919. Mehr KJMV-Mitglieder wies nur das Bistum Münster mit 67.500 auf, von denen allerdings lediglich 8.230 zur Gruppe der bis 14-Jährigen zählten. Für das Bistum Paderborn beliefen sich die entsprechenden Zahlen auf 47.120 bzw. 9.150.

[5] Selbstzeugnisse von ND-Gruppen wurden seitens des NS-DOK bereits in einem früheren Projekt als digitale Edition zugänglich gemacht. Vgl. hierzu https://jugend1918-1945.de/ND/default.aspx?id=29189&root=29189 (24.1.2020). Zum ND vgl. einführend https://jugend1918-1945.de/ND/default.aspx?bereich=projekt&root=29189&id=28296. Zu den Kölner Zahlen vgl. https://jugend1918-1945.de/ND/default.aspx?bereich=projekt&root=29189&id=28284 (beide (24.1.2020).

[6] Vgl. https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Deutsche_Jugendkraft (24.1.2020).

[7] Das Folgende nach https://jugend1918-1945.de/portal/Jugend/thema.aspx?bereich=projekt&root=26635&id=5260 (24.1.2020).

[8] NS-DOK, N 2475: Tagebuch Willi Struck 1939/40, Einträge vom 1. und 4.7.1939. Hier nun zugänglich unter ??? Link ???