Tagebücher

Das Führen eines Tagebuchs erlebte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Höhepunkt.[1] In den zahlreichen gesellschaftlichen und damit oftmals verknüpften persönlicher Krisen, unter dem Eindruck sich überstürzender Ereignisse und brutaler Kriege, mithin in Momenten, in denen sich die gewohnten Verhältnisse abrupt änderten, bot ein Tagebuch eine sehr persönliche Form der Krisenbekämpfung und diente nicht selten auch als Mittel gegen Einsamkeit und Verzweiflung.

Viele Tagebuchschreiber*innen brachten jedoch nicht „nur“ ihre individuelle Wahrnehmungen zu Papier, sondern fügten ihnen – ob bewusst oder unbewusst - in aller Regel auch damit zusammenhängende Interpretationen historischer Ereignisse an. Im Idealfall können aus solchen Tagebüchern – möglichst ergänzt um weitere Selbstzeugnisse wie etwa Briefe – Ansätze einer „Kollektivgeschichte“ abgeleitet werden – etwa jene der Angehörigen der katholischen Jugendbewegung unter den Bedingungen des Nationalsozialismus. Denn nach Ansicht vieler Historiker*innen finden sich in Tagebücher allgemeine Geschichte, Interpretation von Geschehnissen und Episoden an einem „Ort“ zusammen. Die zahlreichen Perspektiven, die solche Quellen dadurch beinhalten können, überlappen sich wie konzentrische Kreise. So spiegeln sie häufig das Innenleben der Autor*innen und deren private Umwelt wider, sie gegen Einblicke in die Auswirkungen historischer Ereignisse auf deren Privatleben, den Alltag allgemein und in die die jeweilige selektive Wahrnehmung des Weltgeschehens einschließlich der daraus resultierenden Gedanken und Gefühle. Aufgrund solch vielfältiger Inhalte setzt sich unter Historiker*innen immer stärker die Haltung durch, den Inhalten privater Tagebücher nicht nur weitaus mehr Vertrauen entgegenbringt, als das in der Vergangenheit geschah, sondern sie als wichtige historische Quelle einzustufen, die im Idealfall in der Lage ist, die Wechselbeziehung von individueller und kollektiver Geschichte darzustellen.

Hier ragen die Tagebücher aus der Zeit des Nationalsozialismus nochmals als besondere Gruppe dieser Quellengattung heraus, denn aufgrund ihrer Entstehung in einer politisch und historisch brisanten Zeit sind sie auch bei einer eher persönlichen Orientierung stets zugleich auch politische Tagebücher. Schon Zeitgenossen bezeichneten die Jahre des Dritten Reiches daher als „Zeitalter des Tagebuchs“, was auf das Bewusstsein zurückgeführt wurde, in einer „historischen Epoche“ zu leben. Das Bewusstsein, in einer Extremsituation zu leben, war für zahlreiche Autor*innen überhaupt erst zum Antrieb, ein Tagebuch zu führen, wobei die Wahrnehmung der Außenwelt – je nach Perspektive als Opfer oder „Täter“ –sehr unterschiedlich ausfallen konnte. Daher ist bei der Arbeit mit Tagebüchern aus der NS-Zeit gerade die Klärung der Frage nach einer etwaigen Selbstzensur des Autors und der Authentizität der Eintragungen eine zentrale Voraussetzung für seriöses Arbeiten. Es gilt also zuallererst die jeweiligen Entstehungsbedingungen dieser Quellen und die mit ihnen verknüpften Intentionen stets kritisch zu hinterfragen.

Zwar liefen private Tagebücher nicht Gefahr, von NS-Seite überprüft und zensiert zu werden, doch ist auch bei solch ausschließlich für den persönlichen Bedarf verfassten Schriftstücken zu berücksichtigen, dass sich in Zeiten permanenter Überwachung und nahezu uneingeschränkter Machtfülle der Gestapo auch viele Tagebuchautor*innen zur Gefahrenabwehr einer Selbstkontrolle unterwarfen. Man sollte sich aber davor hüten, vor einem solchen Hintergrund Tagebücher gleich zu „Medien der inneren Emigration“ oder gar zu „Dokumenten des inneren Widerstandes“ zu erklären. Trifft das sicherlich auf die Bedrängten und Verfolgten zu, so stellte das Führen eines Tagebuchs für die große Mehrheit etwas dar, was von Seiten des NS-Regimes sogar gefördert wurde. Partielle Regimekritik und eine gleichzeitige Übereinstimmung mit Leitbildern und gesellschaftspolitischen Zielen des NS-Regimes schlossen sich nämlich keineswegs aus, sondern mischten sich in vielen Tagebüchern.[2]

Trotz möglicher Einschränkungen bleibt festzustellen, dass - zumal unveröffentlichte - Tagebücher aus der NS-Zeit die Möglichkeit bieten, einen Blickes auf den sonst nur schwer zu fassenden Alltag der Bevölkerung zu werfen. Sie können zudem die Möglichkeit bieten, die Problematik der „inneren Emigration“ bei Gegnern des Nationalsozialismus ebenso wie die Entstehung individueller und kollektiver Handlungen besser zu verdeutlichen.[3] Außerdem können sie geeignet sein, der Frage nach der inneren Anteilnahme und Beteiligung von Menschen am Nationalsozialismus nachzugehen. „Tagebuchaufzeichnungen ermöglichen einen Blick auf Gefühls- und Gedankenwelten, an die sich diejenigen, die diese Zeit erlebten, seither selbst nur schwer erinnern können und wollen. Die Verflechtung von Politik und Alltag, Öffentlichem und Privatem, Eigensinn und Geschichte können in den autobiographischen Texten dieser Jahre studiert werden.“[4] Von erheblicher Bedeutung ist dabei natürlich, dass solche Quellen nicht zuletzt „wichtige Einblicke in zeitgenössische Reaktionen und Wahrnehmungen“ eröffnen, weil die Einträge nicht wie bei aus der Rückschau verfassten Autobiographien oder lebensgeschichtlichen Interviews „durch Erinnerungskonstruktionen überformt“ sind. Zugleich bleiben sie aber stets „subjektive Konstruktionen“, die „durch persönliche Stilisierungen in besonderer Weise geprägt sind“. Schließlich gilt es zu berücksichtigen, das Zeitgenoss*inen nicht alles, was sie im Innern bewegte, dann auch ihren Tagebüchern anvertraut haben.[5]

Wie immer jedes einzelne der hier zugänglich gemachten Tagebücher auch zu bewerten ist, so stellen sie in jedem Fall eine ideale Ergänzung zu den Briefwechseln der katholischen Jugendlichen dar. In Kombination eröffnen die hier präsentierten Selbstzeugnisse zum Teil neue Einblicke in deren Denken, Planen und Handeln oder legen zumindest Modifikationen von bisherigen Sichtweisen nahe.

Fußnoten

[1] Vgl. ausführlicher und mit detaillierten Literaturnachweisen https://jugend1918-1945.de/portal/Jugend/info.aspx?bereich=projekt&root=19738&id=19739&redir=

[2] Vgl. Frank Bajohr: Das „Zeitalter des Tagebuchs“? Subjektive Zeugnisse aus der NS-Zeit. Einführung; in: Frank Bajohr/Sybille Steinbacher (Hgg.): „... Zeugnis ablegen bis zum letzten“. Tagebücher und persönliche Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust, Göttingen 2015, S. 7-21, hier S. 8f.

[3] Vgl. Gottfried Abrath: Subjekt und Milieu im NS-Staat. Die Tagebücher des Pfarrers Hermann Klugkist Hesse 1936-1939. Analyse und Dokumentation, Göttingen 1994, S. 17

[4] Susanne zur Nieden: Alltag im Ausnahmezustand. Frauentagebücher im zerstörten Deutschland 1943-1945, Berlin 1993, S. 15

[5] Bajohr, Zeitalter, S. 9