Marga Ortmann an August Broil, 5. Juli 1943

49. Montag, den 5. Juli 1943

Mein lieber August!

Ich warte auf Dich. Wenn es schellt oder es klopft an der Türe so meine ich Du müßtest davor stehen; jeder Soldatenschritt läßt mich hoffen, daß es der Deine sein könnte. Ob Du meine beiden Briefe und die 2 Telegramme noch nicht erhalten hast oder war es Dir trotzdem nicht möglich Urlaub zu bekommen? Wir hätten Dich jetzt alle so nötig. In der Nacht von Samstag auf Sonntag ist Bayenthal und Marienburg besonders heimgesucht worden. Ich hatte in der Nacht in der Hermann Beckerstr. geschlafen (d. h. 1 Stunde gelegen) weil ich bis ½ 12 noch auf der Suche nach einem Lastwagen für Henny’s Sachen war. Da habe ich mich gestern morgen gleich aufgemacht, um zu Deinen Eltern zu kommen und war von einer schweren Sorge erlöst, als ich soweit noch alles heil antraf. Daß das ganze Geschehen Deine Eltern, auch Deine Mutter, die bisher noch so ruhig war, stark mitgenommen hat, kannst Du Dir wohl denken. Ich tue schon immer was ich kann wenn ich da bin, aber wenn Du einmal hier wärest ging das alles viel besser. Auch für unseren Vater wäre ich so froh wenn Du

kommen könntest. Ich bewundere meine Eltern welche Haltung sie in allem bewahren. In solchen Stunden, wie wir sie jetzt erleben, da erweist es sich welche Kraft in dem Menschen wohnt, der sein ganzes Leben mit all den Höhen und Tiefen aus dem Glauben zu gestalten weiß. Ohne diese Kraft muß doch jeder, der noch nicht gegen jedes menschliche Empfinden abgestumpft ist, unter der Last zerbrechen. Vater und Mutter sehen beide sehr schlecht aus, als ob sie um Jahre gealtert wären. Ich versuche sie dahin zu beeinflussen, daß sie nach Erledigung der dringendsten Sachen zunächst 8-14 Tage fortfahren. Hoffentlich gelingt es mir.

Du, mein August, ich habe noch nie so stark danach verlangt mit Dir zusammen zu sein wie jetzt. Ja, es ist mir noch nie so zum Bewußtsein gekommen, daß ich einen Menschen brauche, daß ich Dich nötig habe. Bisher war es immer nur so, daß andere mich brauchten und ich selbst mit meinem Erleben auch wenn es schwer war alleine stand und auch nicht danach verlangte bei anderen Hilfe zu suchen. Nun aber ist das so anders, Du bist bei mir, wir gehören jetzt untrennbar zusammen und es kann ein lebendiges Hinüber und Herüber im gegenseitigen Geben und Nehmen stattfinden.

Wenn doch nur irgend ein kleines Zeichen Deines Gedenkens zu mir durchkommen könnte. Aber wir sind ja von

allem abgeschnitten und wie wehe tut mir der Gedanke, daß vielleicht Deine Briefe an mich verloren gegangen sind. Aber alles was jetzt von uns gefordert wird wollen wir in Bereitschaft tragen, ohne Murren, ohne Bitterkeit, auch dann wenn das Herz bluten muß.

Diese Nacht habe ich geträumt, ich hätte im Schutt meine Tagebücher noch unversehrt gefunden, die ich Dir noch zu lesen geben wollte. Mit so manchen Dingen, die ich mir erarbeitet hatte, wollte ich Dir so nach und nach eine Freude machen. Verse, die die letzten Tiefen meiner Seele eingefangen hatten, auch aus früheren Jahren, hatte ich für Dich bewahrt. Das Gedächtnis hatte sie dem Papier anvertraut, das nun in Flammen aufgegangen ist, und ist nicht mehr fähig es erneut herzugeben. Aber wie ich mich Dir ganz schenke, so besitzt Du damit ja auch alle die Dinge, die zu meinem Leben dazu gehören weil sie aus seinen letzten Quellen entstanden sind; auch wenn Du sie jetzt nicht mehr so erfahren kannst als wenn Dir all die äußeren Zeichen dazu erhalten geblieben wären.

So schmerzlich der Verlust mancher Dinge ist, ich mache mir keine Vorwürfe darüber, daß ich nicht mehr Vorsorge getroffen habe. In dieser Zeit sind alle Sicherungen, die Menschengeist nur erinnern kann, aufgehoben. Wenn uns auch all das, was wir erleben mußten, die Bosheit der Menschen angetan hat – hinter allem Geschehen

steht doch der Wille Gottes, des Vaters, der uns unendlich liebt auch dann wenn er uns züchtigen läßt, vielleicht dann erst recht. Er hat das Opfer von uns gefordert und weiß es zu unserem Heile zu gestalten, so wollen wir es freudig bringen. Wie sehr muß der liebende Gott leiden unter dem Unrecht, das sich seine Geschöpfe einander antun. Ist es nicht gut, daß viele Menschen betroffen sind, die all das Leid tragen, um dadurch ein wenig Ersatz leisten zu können für die maßlose Kränkung, die dem Herzen Gottes durch das Geschehen unserer Tage zugefügt wird? Er vermag alle Bitterkeit in Segen umzuwandeln, für uns und alle die Vielen, die heute noch nicht damit fertig werden können.

Viel ist uns genommen worden; wer weiß, ob nicht noch Größeres von uns gefordert wird. Wir können nicht genug beten, daß der Herr bei uns bleibe in aller Prüfung; damit wir geläutert und gestärkt aus aller Not hervorgehen.

Du, mein Liebster, wir wollen uns zu Beginn jedes neuen Tages und dann wenn er seinem Ende zugeht im Gebet vereint wissen. Darin und im Gedenken aneinander können wir immer noch zueinanderfinden, wenn uns auch sonst alle Möglichkeiten der Gemeinsamkeit genommen sind. Ich denke an Dich und bleibe immer

Deine Marga.