Marga Ortmann an August Broil, 2. Oktober 1943
65. Köln, den 2. Okt. 1943.
Mein lieber August!
Nun sind schon 2 Tage vergangen, seitdem wir in der Abendstunde voneinander Abschied genommen haben, doch meine Gedanken stehen trotz dem Getriebe des Alltags noch mitten im Erleben unserer feinen gemeinsamen Tage. 16 Tage der Gemeinsamkeit sind uns geschenkt worden, und wir durften uns in ihnen klarer und tiefer erkennen – mit dem fragenden, forschenden Verstand und mit dem liebenden, suchenden Herzen – als je zuvor auf unserem gemeinsamen Weg.
Unsagbar viel Neues durfte ich in diesen Tagen erleben und erfahren. Die Herrlichkeit der Höhenwege des Lebens ist mir aufgeleuchtet und ich habe sie in mich hineingesogen, so wie die Trauben an den Hängen der Moselberge das Licht der Sonne. Unfaßbar schön und glückhaft ist das Erleben mit stürmender Gewalt in mich eingegangen; ich will es in liebender Sorge hüten und wahren und zur Entfaltung bringen. Denn alles Schöne, Edle und Kostbare bedarf der besonderen Pflege und Behütung – wir haben uns Gedanken darüber gemacht als wir die Mühen der Winzer im Weinberg miteinander beobachtet haben.
Man muß erst den Gipfel erreicht haben, um die Tiefe des Abgrundes ermessen zu können. Das ist mir in diesen Tagen klar geworden, denn neben dem glückhaften Erleben unseres Zusammenseins, stieg zum ersten Mal ein Ahnen in mir auf um die unendlichen Tiefen, in die das Menschenleben sich verlieren kann.
Die höchste Steigerung menschlichen Glückes und die letzte Tiefe menschlicher Schuld liegen so dicht nebeneinander, daß es vielleicht nur eines Schrittes bedarf, um vom Gipfel in die Tiefe hinabzustürzen. Diese Erkenntnis ist mir vor allem aus dem Erleben des letzten Morgens geworden. Es ist eine ernste Erkenntnis und sie hätte mir erspart bleiben können, im Verzicht auf die letzte Höhe, um der Gefahr des einen Schrittes, der im Zuviel liegt, zu entgehen. Aber es ist vielleicht nötig, daß wir einmal in der Gefahr gestanden haben, - wenn auch vielleicht unbewußt – um sie nachher recht erkennen zu können. Ich bin Dir ja so dankbar, daß Du mir aus Deinem Erfahren heraus die Gefahr so klar vor Augen gestellt hast. In diesem Erkennen, und mag es noch so bitter gewesen sein, habe ich Dich und die Schwierigkeiten Deines früheren und jetzigen Lebens viel besser verstehen gelernt. Du mein lieber August, ich will Dir helfen aus der ganzen Kraft meines Herzens, dieser Schwierigkeiten Herr zu werden.
Du, und ich habe das feste Vertrauen und die frohe Zuversicht, daß es uns in gemeinsamem Bemühen gelingen wird, wenn uns auch der Kampf nicht erspart bleiben wird. Wir wollen alles tun was in unseren Kräften steht, diesen Kampf bewußt und stark zu führen und vor allen Dingen viel viel Liebe und Vertrauen haben, denn sonst ist all unser eigenes Bemühen vergebens. Ich habe es Dir schon gesagt in unseren gemeinsamen Tagen: Du siehst die Notwendigkeit des Kampfes, willst alles einsetzen, um ihn zu bestehen, doch dann erkennst Du die Ohnmacht des eigenen Vermögens und bleibst dabei stehen, anstatt über Dich selbst hinaus vorzudringen in jene Kraftquellen, die uns in so reichem Maß zur Verfügung stehen.
Weißt Du, es ist mir so ganz besonders bewußt geworden, wie gut es ist, daß der Vater im Himmel, der Lenker aller Geschichte der Menschen, uns so zueinanderfinden ließ in der Verschiedenheit unseres Seins und unserer Veranlagung. Müssen wir nicht das Vertrauen haben, daß Er gerade das Anderssein unserer Wesen in glückhafte Spannung zueinander bringen wird, und dürfen wir nicht trotz der Erkenntnis menschlicher Unzulänglichkeit nicht mehr Vertrauen in uns selbst, in den anderen und in unsere gemeinsame Liebe setzen? Vor allem wollen wir um ein gutes Bestreben in unserem gemeinsamen Ringen beten. Es war so schön
als wir am letzten Abend nach dem ernsten Gespräch im Südpark gemeinsam in der Kapelle vor dem Herrn knieten. Da schien mir die Lösung all der Schwierigkeiten und Probleme, die mich vorher noch bedrückten, garnicht mehr schwer. Wo sollten wir die Lösung unserer Fragen auch anders finden wenn nicht bei Ihm, der die Geheimnisse aller Dinge wie Fäden in den Händen hält?
Liebster, wenn ich Rückschau halte auf das Erleben unserer gemeinsamen Tage, das ich in seiner Fülle noch garnicht zu fassen vermag, so überkommt mich eine heiße Dankbarkeit und eine stille Freude. Ja, wir wollen von Herzen dankbar sein für alles, was wir aus diesen Tagen schöpfen dürfen, für den Ernst neuer Erkenntnisse ebenso, wie für das Glück der geschenkten Freuden.
Könnten wir Menschen doch bei jedem Rückblick auf ein Werk oder auf unsere Tage mit dem Schöpfer sprechen wie Er nach seinem Schöpfungswerk: „…siehe, alles war sehr gut.“ Das vermögen wir nicht, denn nicht jeder Tag sieht uns als Sieger. Aber eines wollen wir tun, mit jedem Werk, so auch mit unseren gemeinsamen Tagen: Es hintragen vor das Angesicht des Herrn, daß Er es schaue mit allem Schönen und Unzulänglichen, und Ihn bitten: Nimm es hin und wirke Du daraus das Gute und unser Heil! – Liebster, mehr kann ich Dir heute nicht sagen, doch morgen ist Sonntag! Ich grüße Dich und bin Dir so nahe Deine Marga.