August Broil an seine Frau Marga, 18. Juni 1944
Sonntag, den 18. Juni 1944
Meine liebe Marga,
die Zeit vergeht wie im Fluge, denn bei dem Vagabundenleben, das wir jetzt führen, ist man fast zeitlos. Hin und wieder muß man irgendwie umständlich ausrechnen, welches Datum und welchen Tag man hat. Die Sonntage gehen im Einerlei der Tage unter. Und doch gibt es einige kleine Anzeichen für das Herannahen der Sonntage. Am Samstagabend hört man das Läuten der Glocken, das von den Dorfkirchen herüberschallt. Obwohl das Kampfgebiet nahe bei ist und man das Feuer der Batterien gut hören kann, läuten die Glocken ihren ehernen Klang. Ein seltsamer Widerspruch und eine zum Nachdenken stimmende Disharmonie: Das tiefe dumpfe beängstigende Rumpeln und das helle, wohlklingende, freie Läuten. So nahe liegen wieder die Gegensätze des Lebens beieinander, das hasserfüllte Kriegsführen mit seinen Schrecknissen und das stille friedliche Tun des Landes. Wo ist da die Grenze? Oft ist es nur ein ganz kleiner Schritt und die Grenzen sind verwischt.
Die Landschaft der Normandie ist schön, ganz einfach schön und dazu noch nach meinem Empfinden schön. Durch eine sehr breite Mündungsbucht zieht die Orne dem nahen Meere zu. Rechts und links ist sie begrenzt von sanften, malerischen Höhen. Ganz ähnlich der Kölner Bucht, die vom Vorgebirge und dem Bergischen Lande in weitem, geräumigen Abstand umsäumt wird. Eine gute Straße steigt die Höhen hinan an sauberen und wohlhabenden Häusern vorbei. Auf den saftigen, blumenbesäten Wiesen weidet das zahlreiche fast schmuck zu nennende Vieh, Kälber, Rinder, Kühe mit vor Fülle schwer hängenden Eutern, Füllen bei ihren Stuten in buntem Wechsel und bunten Farben. Schloßartige Landbauten liegen hinter ehrwürdigen hohen Bäumen
seltsam dunklen Zypressen, wuchtigen Ulmen, unruhig und silbrig glitzernden Pappeln versteckt. Wogende Felder sucht man in dem Grün der Obstweiden vergebens. Die Wiesen liefern soviel Gutes, daß man auf einen harten Ackerbau verzichten zu können glaubt. Weiter die Hügel hinan muß man unwillkürlich den Schritt immer wieder verhalten und sich umblicken. Denn dann liegt das weite Land der Mündungsebene zu Füßen wie ein großer grünender Garten. Der Wind weht vom Meere kühl und herb herüber und die Sonne sendet ihre etwas durch den Dunst gedämpften Strahlen hinein in den schönen Garten. Da und dort sieht man eine Rauchsäule in der Ferne aufsteigen und hört das Rumoren der Fronten: Zeugen des Krieges, der ein friedliches, schönes Land überziehen will mit seinen furchtbaren Schrecknissen.
Als ich gestern am Abend der Woche dort oben war mußte ich viel an zu Hause denken, an unsere schönen Stunden in der Gemeinschaft, an unsere sonntäglichen Fahrten auf die Höhen des Bergischen Landes. Wenn die Sonne des Sonntages sich dem Untergang zuneigte, wie oft wanderten wir dann über die Stillen Höhen hinweg und tranken die Schönheit des zu Füßen liegenden Bildes der weiten Ebene als Labsal für den Werktag in uns hinein. Wie rechtschaffen müde und wohlbehaglich sind wir dann in die heimatliche Stadt zurückgekehrt. Ach, liebe Marga, es ist alles so voll schöner Erinnerungen an das Gute, das uns widerfuhr, und auch in dem Einerlei des Soldatseins biete sich so oft Gelegenheit zu einem stillen dankbaren und von Sehnsucht erfüllten Erinnern.
Dann gehen auch in den rauhen und wenig herzlichen Tönen und Spielarten des Soldatenlebens ganz feine und zarte Fäden der Gedanken hinüber zur Heimat, zu den Lieben, den Freunden und vor allem aber zu Dir, meine Liebste. Dann möchte ich mich hinlegen in das gute wehende Gras und ganz lange zum hohen Himmel hinaufblicken
an dem die weißen Wolken von Westen nach Osten dahinziehen, der Heimat zu. Liebste, wenn ich Dir ehrlich und gerne von diesen Gedanken und kleinen Erlebnissen schreibe, dann muß ich Dich zugleich um eins bitten: sie nicht als Niederschlag einer geheimen Klage aus der Fremde zu betrachten, die Dir Anlaß zur Sorge sein könnten. Nein, das sind sie nicht. Sondern sie sollen nur in Worten Ausdruck geben von dem an sich Schönen der Vielfalt innerer Erlebnis und Gefühle, die von Freude u. Schwermut, Dankbarkeit und Bitte gemischt sind und eines jeden empfindsamen und in sich hineinhorchenden Menschen kostbarer Besitz in der Fremde ist.
Meine Marga, in diesen Tagen erreicht die Sonne ihren höchsten Stand. Als sie sich anschickte, aus dem Dunkel des Winters zu Frühling und Wärme den Aufstieg zu beginnen, da standen auch wir beide im Beginn unserer tiefsten Gemeinsamkeit, die uns für Augenblicke alle Not und Sorge um uns her vergessen ließ und uns ganz in der Liebe so einander zuführte, daß wir unsagbar reich beschenkt aus diesen tiefsten Stunden hervorgingen. Oft hatten wir nachher noch das Glück zu tiefstem Einssein, und jedesmal gingen wir reicher beschenkt auseinander. Dann brachtest Du mir die Kunde von dem wachsenden Leben unter Deinem Herzen, und wir legten dankbar Hand in Hand und waren in unserem Einssein noch beglückter, und unsere Liebe wuchs. Das hohe Osterfest sah uns dann zum letzten Male für lange Zeit auf diese wunderbare Weise ganz eins; für lange Wochen - so wußten wir es, senkte sich die Fülle unserer Liebe tief in unsere Herzen. Und nun beim hohen Stand der Sonne ist das Geschenk unserer Liebe, unser Kindlein, zu einem beglückenden Leben in Dir gewachsen und wächst nun weiter zur Reife, damit es ein neues gutes Leben vor Gott dem Herrn werden kann. Nur in Gedanken kann ich all die schönen Stunden miterleben, die Dir sein Wachsen bereitet. Wartend und hoffend muß ich sein Wachsen der Vaterhand Gottes
anvertrauen, der es gewiß gut mit uns meint.
Und ich weiß, meine Liebste, daß er Dir Kraft genug gibt, das Alleinsein, das für Dich in dieser Zeit schwerer ist als für mich, standhaft und tapfer zu tragen.
Meine liebe Marga, von der Außenwelt, d. h. von der Heimat sind wir jetzt so ziemlich abgeschnitten; denn Post kommt vorerst nicht durch, auch glaube ich geht von hier aus nichts nach Hause durch. Trotzdem will ich meine Gedanken in Briefe an Dich niederschreiben. Denn es ist auch später gut, wenn Du rückwirkend überdenken kannst, wie es da oder dort um mich bestellt war. Ich kann mir dann gut vorstellen, wie Du dann später meinen Brief in der Hand halten wirst und dann nachsinnen wirst, ja, an jenem Sonntag da habe ich dies oder das getan, habe in meinem Tun auf diese oder jene Art ihn miteinbezogen; und es ist dann so gewesen, wie der Brief es erzählt. Ich freue mich, wie Du dann den Brief lesen wirst. Und genau so werde ich es mit Deinen Briefen machen, die später zu mir kommen werden.
Du Marga, mache Dir keine Gedanken über mein leibliches Wohlergehen. Gewiß muß man auf manche Annehmlichkeit verzichten, die ein geordnetes Leben - auch Soldatenleben - bietet. Man macht es sich da so gut wie eben möglich. Die Verpflegung ist seit Beginn der Kampfhandlungen ausgezeichnet und kaum zu bewältigen. Könnte man Euch zu Hause doch davon etwas zukommen lassen. Wir nehmen diese guten Sachen alle so selbstverständlich hin, und Euch zu Hause würden sie oft noch besser tun als uns hier.
Marga, meine liebe Frau, was kann ich Dir jetzt anders Gutes tun, als in Gedanken und Worten des Briefes bei Dir zu sein. Darin soll es aber auch ganz lieb und herzlich sein. Es überlief mich ganz wohlig und warm, als Du in einem Deiner letzten Briefe so gute Worte für mich fandest, die auch die zartesten und feinsten Dinge sagen durften. Ganz so innig, Liebste, will ich meine Lippen auf Deinen Mund drücken, und alle Wärme und Liebe soll von Dir zu mir hinüberströmen und wieder zu Dir von
Deinem August.