August Broil an seine Frau Marga, 9. August 1944
Frankreich, den 9. Aug. 1944.
Meine liebe Marga,
manchmal vergehen die Tage, ohne daß ich etwas Vernünftiges tuen oder etwas Ordentliches anpacken kann. Wie Sand verrinnen sie zwischen den Fingern und am Abend steht man recht leer und verlassen da. Dann mache ich mir oft selbst Vorwürfe, und ich sage mir, warum ich dies oder das nicht getan habe, was ich gut hätte tun können. Es fällt mir an solchen Tagen - ehrlich gesagt - schwer, einen Brief an Dich zu schreiben. Ich meine immer ein Brief solcher Tage könnte Dir nichts Gutes schenken, sondern er würde Dich nur belasten. Aber ich weiß andererseits auch wieder, daß Du gerade an solchen Briefen eine besondere Freude hast, weil Du daraus so vieles herauslesen kannst, was ein schwungvoll hingeschriebener Brief nicht bringen
kann. Darum ist es auch, daß ich an solchen Tagen trotz allem einen Brief an Dich versuche. Und oft genug ist es mir so ergangen, daß ich über dem Schreiben und über den damit zusammenhängenden Gedanken das Seltsame und Hemmende des Tages überwinden konnte und ausgesöhnt den Tag doch noch gut beschloß. Heute scheint es auch so ein Tag zu sein - ich glaube, daß Du das an der ganzen Art des Briefes schon längst gemerkt hast. So ist es wohl bei all meinen Briefen, daß die jeweilige Stimmung und innere Ruhe das Bild des Briefes beleben und verdüstern kann. Ein solcher Tag ist dann auch so geartet, daß ich meine, mit meine Gedanken garnicht recht voranzukommen oder gar überhaupt keinen guten Gedanken habe zu all dem was ich Dir eigentlich schreiben müßte. Alle Probleme, alle Fragen kommen mir dann als etwas so Selbstverständlich-
dahingestelltes vor, daß ich gar keinen Mumm dazu aufbringe, sie wirklich anzupacken. Es kommt mir so vor als wären sie entweder schon alle gelöst und beantwortet oder als wären sie alle so unwichtig, daß ich mich erst garnicht damit zu beschäftigen brauche. Ich will aber etwas tiefer hinabsteigen und nachforschen, woran das eigentlich liegen kann und ob das so sein muß oder ich dem entgegenarbeiten muß.
Wenn ich so auf den ersten Blick und Eindruck etwas darüber sagen wollte, dann müßte ich ganz einfach sagen, daß es eine Art Faulheit und Bequemlichkeit ist. Diese allerdings hat wieder weitere Ursachen, die in der Gesamtveranlagung wie auch in der jeweiligen Verfassung begründet sind. Ich habe immer wieder in meinem Leben festgestellt, daß ich eine Neigung zu einer mehr passiven Lebensführung habe. Es ist ein Hang zu einer abwartenden, zurückgezogenen Haltung.
Die Dinge werden nicht ergriffen und nach dem Willen geformt, sondern die Dinge drohen oft genug mich zu ergreifen und zu formen. Auf der Grenzlinie zwischen beiden Möglichkeiten ist ein dauernder Kampf um die Vorherrschaft, und dieser Kampf, meine Liebste, hat, wie Du aus meinen Briefen von früher her weißt stets sehr viel meines Innern beansprucht. Und es wird auch so sein, daß dieser Kampf niemals aufhören wird und aufhören darf. Wenn er nämlich aufhörte, dann würde die passive Lebenssubstanz eine solche Kraft über mich erlangen, daß ich ihr ganz und gar hingegeben wäre und damit einzig dem guten Glück, ob mein Weg vor Schaden bewahrt bliebe oder nicht. Denn der schädliche Einfluß würde es dann ja um vieles leichter haben. Ein ganz großes Glück, den Kampf leichter zu bestehen, ist mir damit beschieden worden, daß unser beider Wege sich kreuzten und daß sie nun miteinander gehen. Damit hat das Leben einen neuen Sinn für mich bekommen, den
eigentlichen und wirklichen Sinn: In der Ordnung der Gemeinschaft von Mann und Frau und der darauf bauenden Ordnung der Familie zu wirken.
Gewiß wäre ein anderes Leben nicht sinnlos gewesen; denn etwas wirklich Sinnloses gibt es in der Welt nicht. Aber es wäre in Wirklichkeit äußerlich vielleicht einfacher und bequemer, innerlich aber um vieles schwerer, vielleicht sogar zu schwer und dann nicht mehr gut geworden. So aber ist jetzt der Wirkkreis weit und groß aufgetan, und ich bin mir der Verantwortung für diesen Wirkkreis ganz und voll bewußt. Wenn ich also in diesem Bewußtsein alle Tage meines Lebens beginne und beschließe, dann muß der Kampf eigentlich nicht mehr so sehr ein Kampf sein gegen die von der Tiefe aufbegehrende Veranlagung, der ich zu verfallen drohte, sondern es muß ein Wirken sein, ein beglückendes Schaffen füreinander und für die Zukunft unserer Familie.
Der Kreis dieser Gedanken ist aber noch nicht abge-
rundet. Ich habe immer eine gewisse Scheu davor, bei solchen Gedanken allzu leichtfertig vom Wirken Gottes zu sprechen. Versteh mich recht, meine Marga! Wir sind mit all unserem Tun und Sein eingebettet in den großen und für uns unfaßbaren Plan Gottes, und es fällt kein Haar vom Haupte ohne Seinen Willen. Sein Wirken und Seine Wege leuchten durch alles hindurch, was uns geschieht, meist unerkennbar, ganz selten einmal offenbar und für unseren Verstand erfaßbar. Bei allem Geschehen Ihn zu nennen und in allem Geschehen Ihn zu erkennen besteht nach meinem Empfinden vielmehr in der ganzen Art und Haltung wie es für uns selbstverständlich ist, daß garnichts anderes sein kann als Sein Wirken. Es ist schwer, an den äußeren Zeichen im Welt- und persönlichen Geschehen Ihn zu sehen und zu erkennen. Unser Sehen und Erkennen liegt im Wissen, das aus dem Glauben kommt.
Wir wissen ganz einfach, daß alles Seine Wege sind, wir wissen, daß wir ganz in Seiner Hand ruhen. Wir wollen nicht vermessen sein, und aus unserem Menschenwirken Ihn deuten zu wollen, aber wir wollen in Ihm sein in allem was der Welt und uns geschieht, was die Welt und wir selbst wirken dürfen. Und so sind wir auch mit unserem Weg wie er war, wurde und wird voller Glück und Zuversicht auf Seinem Wege.
Sieh, meine Liebste, nun bin ich ganz froh, daß ich nach diesem etwas dumpfen und wenig „erfolgreichen” Tage doch noch einen Brief an Dich versucht habe. Das schmerzliche Gebundensein an die eigene Unzulänglichkeit ist vielfach nur die Brutstätte für bessere Stunden.
Wir liegen nun schon eine ganze Woche in einem kleinen, aus wenigen Häusern bestehenden Ort im rückwärtigen Gebiet. Heute waren wir zu wenigen den ganzen Tag in der Sonne, während die Wagen vom gestrigen Tage noch unterwegs sind und jetzt sicher die nächste Nacht abwarten, in der sie dann wieder zurück-
kommen werden. Wöchentlich zwei- oder dreimal gibt es für mich, teils mit dem Lkw, teils mit dem Krad eine wunderschöne Fahrt in die 60 km der Front weiter zu gelegene Troßstellung zum Abholen der Verpflegung für die Einheit. Dabei sieht man so schön die normannische Landschaft. Du hast sicher das eine oder andere in den Tageszeitungen darüber gelesen. Die Berichte, die ich las, waren alle sehr eindrucksvoll und zutreffend. Ach, es wird ja so vieles zu erzählen sein nach der langen Zeit der Trennung. Wie werden wir eines Tages staunend einander anblicken, und wie werden wir uns freuen, wenn wir dann unser Kindlein schauen dürfen, das jetzt schon so kräftig an die Pforte der Welt pocht. Dann werden wir Hand in Hand stehen, froh und beglückt, daß wir Gottes Wege o gehen dürfen.
Dein August.