Willy Winterscheidt an Kaplan Stiesch, 31. Dezember 1941
31.XII.41
Lieber Herr Kaplan!
Nun komme ich auch endlich mal wieder dazu, Ihnen einen Brief zu schreiben. Sie können ihn ja den anderen Kameraden vorlesen. Ich bin nun seit einigen Wochen von der Artillerie zur Infanterie kommandiert und habe somit auch wieder eine neue Feldpostnummer: 22937
In den letzten Wochen habe ich nun schon allerlei Schreckliches erlebt. Wir fahren immer in vorderster Linie. Ich habe Tage hinter mir, an denen ich dachte, ich würde den anderen Tag nicht mehr erleben. Der Russe ist nämlich in den letzten Wochen hier sehr aktiv. Immer wieder versucht er durch verzweifelte Gegenangriffe seinem Vernichtungsschicksal zu entgehen. Besonders die Flieger machen uns als Jahrkolonne dabei allerhand zu schaffen. Hinzu kommen noch die Tag und Nacht andauernden Angriffe unseres erbittertsten Feindes, des „General Winter“. Täglich fügt er uns durch Kälte, Schnee und Eis Verluste zu. Schon mancher Kamerad musste mit erfrorenen Gliedern zurückbleiben. Mancher Wagen blieb im hohen Schnee stecken. Manches Pferd musste erschossen werden, weil es auf dem Glatteis ein Bein gebrochen hatte. Ist man dann abends im warmen Quartier, dann greifen die „Partisanen“ an. Das sind winzige Tierchen, in Deutsch-
land als Läuse bekannt. Keiner ist davon verschont. Einer hat an einem Abend ca. 100 Stück davon getötet. Der Rekord bis jetzt ist 148. Wer die nicht selber gehabt hat, kann sich nicht vorstellen was das für eine Qual ist. Nachts lassen diese kleinen Biester einen nicht schlafen. –
Von allen schrecklichen Bildern dieses Krieges werde ich eins wohl nie vergessen können, und das ist mein hl. Abend 1941. Wir lagen in einem grösseren russischen Dorf, etwa 8 km von der vordersten Linie entfernt. Draussen eine krachende Kälte. Wir bereiteten uns gerade auf den hl. Abend vor, an dem eine kleine Weihnachtsfeier steigen sollte. Doch plötzlich und unerwartet kam um 15.00 Uhr der Befehl zu weiterem Vormarsch. Wir mussten nach vorne um x zu fahren. Bei hereinbrechender Dunkelheit fuhren wir los. Auf Kilometer-Breite war der Himmel vor uns blutig rot vom Scheine brennender Dörfer. Unser Atem wurde unter der Nase sofort zu Eis. Unsere Fahrzeuge reichten nicht um alles wie befohlen zu laden. Daher bekam ein Unteroffizier und 3 Mann (darunter auch ich) den Sonderauftrag in einem der brennenden Dörfer Schlitten, Pferde und Russen zu holen. So fuhren wir 4 denn los. Im Dorf bot sich mir ein schreckliches Bild. Kein Haus war vom Feuer verschont geblieben. Wohnhäuser, Ställe und Scheunen brannten lichterloh. (Aus taktischen Gründen von uns in Brand gesteckt.) Kühe, Pferde, Schafe und Ziegen liefen wild durcheinander. Feuer und Rauch nahmen uns oft Sicht und Atem.- Dazu aus der Ferne das raue Tacken der deutschen und russischen Maschinengewehre. Und dieses Elend unter der Zivilbevölkerung, die so durch den Krieg um alles beraubt
nur ihr nacktes Leben retten konnten. Hinter einem Haus eine weinende Frau mit einem Säugling an der Brust. Das war mein hl. Abend. Wie eine grosse Lüge klingt doch da die Weihnachtsbotschaft des kleinen Kindleins in der Krippe an das Ohr all’ der Menschen ohne tieferes religiöses Denken: „Friede den Menschen auf Erden.“ –
Wir sind die ganze Nacht durchgefahren und ehe wir recht zur Besinnung kamen, war der 1. Weihnachtstag schon halb vorbei. Abends hatten wir dann eine kleine Weihnachtsfeier. Als da aus 70 Kehlen das Lied von der Hl. Nacht erklang, konnte ich meine Tränen nicht mehr halten. Ich schäme mich gar nicht, dies zu schreiben. Ich habe bitterlich geweint. Ich musste da an meine lieben Eltern daheim denken, wie sie wohl den Abend zuvor unterm Weih-nachtsbaum sassen, ohne mich. Ob Mutter wohl sehr geweint hat. Es war wohl für die meis-ten in diesem Jahre eine traurige Weihnacht. –
Gott sei Dank sind diese Tage nun vorbei.
Das alte Jahr neigt sich seinem Ende zu. Mein Dank am heutigen Sylvesterabend gilt an erster Stelle meinem Heiland, der mich im vergangenen Jahr so gut beschützt hat und mri soviel Gutes geschenkt. Möge er mich und alle Kameraden von St. Dreikönigen auch im kommenden Jahre unter seinen besonderen Schutz nehmen.
Ihnen, Ihren lieben Eltern und allen Kameraden wünsche ich im neuen Jahre alles Gute und Gottes reichsten Segen.
Was mag dieses neue Jahr uns wohl bringen? Den Frieden?? Es sieht nicht danach aus. Und doch, wie schön wäre es, wenn wir das nächste Weihnachtsfest als ein wirkliches Fest des Friedens feiern können.. Es ist schon gut, dass der Mensch nicht in die Zukunft schauen kann. Vertrauen wir der göttlichen Hilfe, die sich im vergangenen Jahre so herrlich bewährt hat.
Wir wollen seine Jungen sein.
Und Sieger bis ans Ende.
Hier, wo überall der Tod so reichlich Ernte hält, hier lernt man das Leben schätzen und lieben. Es ist dies keine Feigheit und auch keine Furcht vor dem Sterben. Es ist nur ein ganz natürlich Drang eines jeden Menschen zum Leben.
Wenn Gott es anders will,, dann wissen wir, die wir in seinem Geiste gelebt haben, auch in seinem Geiste zu sterben. „Herr Dein Wille geschehe“. Willy Stupp und viele andere Kameraden haben uns darin ein Beispiel gegeben.
Für heute Schluss. Nochmals veile Grüss an alle. Denkt auch im Krieg an die Apostolet-Aufgabe junger Kirche. Im „Speerflug“ las ich mal so schön:
Was ist grösser, ein Wacher unter Schlafenden zu sein, oder ein Weckender unter jenen?
Heil und Gruss
Euer Willy