Gisbert Kranz an seine Familie, 14. Juni 1942

Danzig, den 14.VI.42.

Meine Lieben!

Heute nachmittag ist es sehr trübe u. regnerisch draußen, weshalb ich nicht sehr böse bin, daß ich als Brandwache in der Kaserne bleiben muß. Ich lese etwas in den Sentenzen und Reflexionen La Rochefoucaulds u. Montesquieus, die ich mir neulich gekauft habe, und nachher will mein Freund Willi Schütz kommen und mir etwas Gesellschaft leisten. So vergeht die Zeit. –

Meine Stimmung: Das glücklichste Gefühl des Tages genieße ich abends im Bett, wenn mir die ganze Welt mal den Puckel raufrutschen kann, und das untröstlichste morgens, wenn ich aufwache und den langweiligen Tag Grau in Grau ohne Plan und ohne Ziel vor mir liegen sehe. Ich sehne die Zeit herbei, wo man sich morgens

frisch u. froh, voller Tatenlust vom Bette erhebt, und nach fruchtbarem Tagewerk nicht zu sagen braucht „diem perdidi“, das war ein verlorener Tag!

Da ich das sture, langweilige Leben in der Genesendenkompanie satt habe – denn hier muß „Dienst“ gemacht werden, aber da man mit uns alten Soldaten nichts rechtes anzufangen weiß und uns anderseits schonen muß, wird die Zeit auf die unsinnigste Art u. Weise vertrödelt – da ich dieses Dahinvegetieren satt habe, bin ich zum Spieß hingegangen und habe um meine Versetzung zu einer andern Kompanie als Ausbilder gebeten. Im Laufe der nächsten Woche werde ich also wohl versetzt werden. Ich habe dann zwar 5 Stunden länger Dienst, doch wenigstens etwas zu tun. –

Freitag machte ich zum erstenmal Bekanntschaft mit Shakespeare auf der Bühne: Ich sah „Der Widerspenstigen Zähmung“, ein köstlicher Schwank, spritzig und flott, in

gelungener Inszenierung mit guten Regieeinfällen. Unsere modernen Lustspieldichter könnten viel von Shakespeare lernen. Shakespeare kommt mit sparsamsten Mitteln aus und ist von größerer Wirkung als unsere zeitgenössischen Dichter. –

Mutters u. Karlheinz’ Briefe habe ich erhalten, u. ich danke dafür. Es wäre doch besser gewesen, wenn Mutter mir die gewünschte Anzahl von Socken geschickt hätte, da ich von der Kammer nur zwei Paar bekomme, was nicht ausreicht, wenn ich die Strümpfe nach Hause schicken will zum Waschen. In dieser Woche schicke ich drei Paar schmutzige zurück, mit Wolle zum Stopfen. Es sind aber, glaub’ ich, keine Löcher drin. Den Rasierpinsel fand ich in der Seifenschachtel wieder, wo ich ihn nicht vermutet hatte. Das kommt davon, wenn man nicht selbst den Koffer packt. –

Die Zeitungen habe ich bekommen, auch die „Feldpost der Heimat“. Vielen Dank.

Und nun Euch allen einen herzl. Sonntagsgruß, Vater gute Besserung seiner Entzündung und Karlheinz einen schönen Urlaub.

Euer Gisbert