Gisbert Kranz an seinen Bruder Karl-Heinz, 28. Januar 1944

28.I.44.

Lieber Karlheinz!

Aus meiner Haft zurückgekehrt, finde ich unter einem Berg von über dreißig Briefen auch die Deinigen vom 13. u. 20.I., für die ich Dir herzlich danke. –

Nun habe ich auch dieses Abenteuer nicht ohne Gewinn überstanden. Ich empfehle Dir, wenn Du nach Hause kommst, meine Briefe und Aufzeichnungen zu lesen, in denen ich meine Erlebnisse ausführlich beschrieb. Gestern bin ich von meinem Regimentskommandeur zwei Stunden lang vernommen worden, da ich eine Beschwerde von sechs Seiten eingereicht hatte. Nun warte ich den Entscheid ab. – Du fragst, ob man mir „Mein Kampf“ zu lesen gab. Ich verzichtete

darauf. Das Neue Testament, das ich immer bei mir habe, begleitete mich auch in die Haft. –

Deine Behauptung, ich sei ein „Kommißkopp“, muß ich ganz entschieden von mir weisen. Mars und die Musen verbinden sich nur zwangsläufig zu einer Koalition. Und was Du von meinem „rheinischen Gemüte“ schreibst, berührt nur die Oberfläche meines Wesens. Ich habe mich oft inmitten der lustigsten und angenehmsten Gesellschaft grenzenlos einsam gefühlt. Und trotz meiner Geselligkeit gibt es manche Leute, die mich für einen „wunderlichen Kauz“ halten. Sie haben wohl nicht ganz unrecht, meine Natur ist widerspruchsvoll zum Zerreissen, und darin gleiche ich wohl auch Dir.

Mein brüderlicher Freund, ich kenne Dich wohl, sind wir doch dem Geist wie dem Blute nach verwandt und tragen einen großen Teil unseres Schicksals gemeinsam. Sind wir denn Egoisten, wenn wir unser Eigentum der Seele wahren? In dieser Welt voll Falschheit und Gemeinheit ist es notwendig sich abzusondern, wenn man auf sich hält und sich nicht mit den Gemeinen sich gemein machen will. Dies muß man tun, ohne sich aber von seinen Mitmenschen zu isolieren. Es gilt, mitten in der Welt zu stehen und doch sich von der Welt unbefleckt zu halten. Gerade die Lebensform, in der wir beide uns augenblicklich bewegen müssen, fordert in hohem Maße diese Haltung: Kamerad sein mit ehrlichem und offenem Herzen,

und doch Distanz wahren. In der Apokalypse heißt es: „Bewahre, was Du hast, damit Dir niemand Deine Krone raube!“ Bei allen Begegnungen mit anderen Menschen fährt man am besten, wenn man sich das Herze warm und den Kopf kühl hält. –

Ich füge zwei Sonette bei, die in meiner Haft entstanden. Sie stellen die Fortsetzung dar des einen, das ich Dir vor einem Jahre bereits zuschickte. Sie sind als Fragmente gedacht, die sich zusammen mit anderen Gedichten gleicher Art, deren Niederschrift einer späteren Entwicklungsstrafe vorbehalten bleiben muß, zu einem Ganzen runden sollen, über dem dann die Überschrift stehen könnte: Abenteuer des Herzens.

Ferner die Neufassung eines Gedichtes aus meiner Danziger Zeit. – Mit meinen Urlaubsaussichten ist es schlecht bestellt. Wäre ich im Februar nach Luxemburg gekommen, so hätte ich gewiß die Gelegenheit gehabt, vor der Abkommandierung zur Kriegsschule nach Hause zu fahren. Nun kann ich vor März nicht auf Urlaub rechnen. Außerdem fürchte ich, daß bis dahin eine Urlaubssperre verfügt wird. Endlich, sollte es mit meiner Versetzung nach Italien klappen, kann ich vorerst überhaupt nicht an Urlaub denken. Daß man den Genesungsurlaub aufgehoben hat, ist sehr bedauerlich. Nun müssen wir beide auf Draht sein, daß wir, wenn

meine Urlaubswünsche sich doch erfüllen, zur gleichen Zeit zu Hause sind. Übrigens denke ich gerade daran, daß Vater und Mutter am 2.X. Silberne Hochzeit haben. Ich meine wir könnten unseren Eltern keine größere Freude zu diesem Feste machen, als daß wir vier Jungen geschlossen zur Stelle sind. Was meinst Du dazu?

Im übrigen wollen wir in allen unseren Wünschen und Hoffnungen geduldig sein.

Dir alles Gute und viel Erfolg bei Deiner „Frauenpsychologie“!

Mit den herzlichsten Grüßen

Dein Gisbert