Gisbert Kranz an seinen Bruder Karl-Heinz, 22. Februar 1944
22.II.44.
Lieber Karlheinz!
Es freut mich, daß Du Gelegenheit hast, öfters ins Theater zu gehen, und so Bildung und Unterhaltung in Einem findest. „Die hl. Johanna“ sah ich vor einigen Jahren in Essen. Später habe ich den Text des Stückes noch einmal gelesen zusammen mit der Einführung, die Shaw selbst ihm voranstellt. Den Prolog, der länger als das Schauspiel ist, lohnt es sich zu lesen. Hier gibt der Dichter selbst eine Sinndeutung seines Werkes, zugleich eine Apologie seiner politischen und weltanschaulichen Tendenzen schreibend. Sie sprüht von Geist, enthält aber ebenso viele historische Irrtümer wie treffende Bemerkungen. Shaw (der übrigens Ire, nicht Engländer ist) hat den modernen Theaterstil sehr beeinflußt. Für seine Eigenart scheint mir der letzte Akt der „Hl. Johanna“ besonders charakteristisch zu sein (Karl der „Kühne“, mit einer Rassel auf dem Bette liegend, empfängt den Besuch von Geistern vergangener und künftiger Zeiten, zum Schluß einen Herrn in Frack u. Zylinder aus unserem Jahrhundert, der die Heiligsprechungsurkunde verliest, welch beißender Hohn!). Mehr noch als die Form interessiert mich der Inhalt. Shaws Tendenz scheint mir am klarsten in dem Dialog zwischen Warwik und dem Bischof von Beauvais hervorzutreten... Darüber vielleicht im Urlaub mündlich mehr.
Es scheint also, daß wir den Frühlingsanfang doch gemeinsam in Schwaben verbringen werden. Mutter sähe gerne uns alle vier mal wieder beisammen, und sie denkt schon, an Günter zu telegrafieren,
wenn wir beide zu Hause sind, damit auch er komme. Nun – deshalb sollst Du aber Deine Genesung nicht gewaltsam beschleunigen. Laß Dir Zeit! –
Der frühe Tod Deines Freundes schmerzt auch mich, weiß ich doch, wie herzlich die Freundschaft war, die Dich mit Hans verband. Ich habe in diesem Kriege manchen Gefährten verloren und vermag es zu ahnen, was es heißt, wenn man auch den einen verliert, den man „Freund“ nannte.
Mit herzlichem Dank für Deinen Brief und den besten Wünschen grüßt Dich
Dein Gisbert