Alfred Vogt an Gisbert Kranz, 10. Mai 1938

Bensberg, den 10. Mai 1938.

Meine lieben Freunde!

Nun habt Ihr sicher mit neuem Mut das Rennen des neuen Schuljahres begonnen. Der Endspurt liegt noch weit vor Euch und ein Zwischenspurt ist auch noch nicht notwendig. Noch sind Eure Gesichter nicht von Sorgenfalten entstellt und Ihr seid mit frohem Herzen wieder in der Gruppe und in Eurem Fähnlein dabei. Da erwartet Ihr sicher, daß ich Euch aus meiner Verbannung in Bensberg einen Gruß sende.

Draußen ist es nun Frühling geworden und der Winter hat nun endlich geschlagen abziehen müssen. Die Frühlingssonne scheint so warm hier in mein Zimmer und auf die Wälder und Felder draußen, daß man am liebsten hinausziehen möchte als hier drinnen hinter den Büchern zu sitzen und die Geheimnisse des Gottesreiches zu studieren. Natürlich ist Euch allen auch der Frühling in die Knochen gefahren und Gisbert wird seine liebe Not haben, daß Ihr wenigstens eine Stunde in der Woche im Fähnlein ruhig auf Euren Stühlen sitzt. Macht, daß er nicht allzu viel graue Haare bekommt aus lauter Sorge um Euch. Der Frühling ist nun einmal ein Geselle, wie er einem rechten Jungen paßt: Voll frischen Lebens und Frohsinn und Übermut. Ich kann mir denken, daß jedes Fähnlein viel Zucht und Schneid von jedem von Euch verlangt, weil Ihr lieber draußen seid in diesen Tagen, als drinnen im Zimmer. Aber

auch das kann ich mir denken, daß Ihr all' das frische Leben und den Mut, den der Frühling in Euch geweckt hat, nun hineintragt in die Gruppe und die Gemeinschaft Eurer Fähnlein, daß Ihr nun mit noch größerer Frische und größerer Freude zusammen kommt.

Und dann denkt einmal gemeinsam darüber nach: All das Leben draußen, wie es jetzt vielleicht in den Bäumen und Sträuchern und Blumen ist ein großes Bild und Gleichnis jenes Lebens, das Christus, der Herr uns, jedem von uns in der hl. Weihe geschenkt hat. Noch ist dieses Leben (das Leben vom Leben Gottes ist) verborgen, aber es wächst in allen, die in Christus bleiben und sich zu Ihm durch die Tat bekennen. Das Leben draußen wird nie vergehen und sterben; das Leben Christi in uns aber bleibt in Ewigkeit. Wenn nun das Leben draußen in der Natur uns schon so froh macht, um wieviel mehr müßten wir über das Leben Christi in uns froh sein. Ja, die Menschen müßten wieder an uns sehen, daß zu Christus stehen, wenn es auch Kampf und Mühen kostet, im Grunde doch Freude bedeutet. Frohbotschaft haben die Apostel ihre Kunde von Christus genannt. Wir müßten einmal wieder den Christen, die in Sorge um das Gottesreich mutlos und traurig geworden sind, diese Freude durch unser Leben zeigen und denen, die nicht zu Christus stehen, beweisen, daß Christsein nicht Traurigkeit und Kopfhängertum bedeutet. Zeigt Eure Freude

zu Hause Euren Eltern, die vielleicht mit großer Sorge die Zukunft des Reiches Christi sehen, zeigt diese Freude überall dort, wo Ihr sonst steht, in der Schule und sonstwo. Komm aber auch mit dieser heiligen Freude zum Fähnlein und zur Gemeinschaftsmesse.

Dann wird der Frühling draußen ein großes Bild des Frühlings im Gottesreiche, den Ihr bringen sollt.

Ich wünsche Euch allen also ein fröhliches Herz und einen frischen Mut und grüße Euch
Euer Alfred Vogt