3.X.1939

Mein liebes Bruderherz!

Endlich komme ich ungetreue Tomate dazu, Dir einige Zeilen zu schreiben. Du wirst sicher schon sehr böse sein. Aber weißt Du, die Kleine spannt mich den ganzen Tag so ein, daß ich nicht zum notwendigsten komme. Außerdem habe ich jetzt schrecklich viel Laufereien mit der Besorgung von Bezugsscheinen, Zusatzscheinen usw. Also sei bitte nicht böse.

Zunächst also herzlichen Dank für Deine letzten beiden Briefe. Der erste erreichte mich aber noch im Krankenhaus. Denen bin ich allerdings nach 8 Tagen durchgebrannt. Ich habe es nicht mehr ausgehalten.

Die ganze Geburt war eine neckische Angelegenheit. Ich bekam am Montag, den 11. enorm hohes Fieber, 39.4. Dr. Meckel-

5.X.1939

Tante Else schellte, kurz darauf Irmgard, dann Mutter. Da war es natürlich mal wieder aus mit der Schreiberei. Heute bin ich den ganzen Tag wieder herumgesaust und jetzt habe ich nur einige Minuten Zeit, denn Frl. Tochter verlangt sehr energisch ihr Recht. Sie will auch unter gar keinen Umständen so lange warten, bis die Mutter dem Onkel Robert den schon so lange überzähligen Brief geschrieben hat. Aber nichts desto trotz, ein paar Zeilen schreibe ich doch noch, damit Du wenigstens mal etwas hörst!

Dr. Meckelburg lehnte also jegliche Verantwortung ab und schickte mich endgültig ins Krankenhaus. Hier musste ich 2 Stunden lang warten, bis endlich ein Arzt erschien, der mich untersuchte. Na, um ¼ vor 10 Uhr lag ich denn glücklich im Bett. Um ½ 11 Uhr platzte die Fruchtblase und eine Viertel Stunde später setzen 5 minütliche Wehen ein, die dann sofort in 3-2 Minuten übergingen. Na, und um 10 Minuten vor 2 ist dann mein Töchting erschienen. Schwarz wie die Nacht mit dunkelblauen Augen, einem Doppelkinn, Pausbäckchen, wundervolle Augenbrauen und frech wie sonst was. Wenn ihr was nicht passt, zieht sie das Näschen kraus und schimpft sehr energisch. Im übrigen hat sie ganz endschieden Säufertalent. Saufen, schlafen, schreien ist ihre Tagesbeschäftigung. Also Du siehst, es geht ihr ausgesprochen gut. Das kleine Ding ist so kräftig, daß sie jetzt schon ihr Köpfchen hebt. Im Badewasser rutscht sie mir aus den Händen. Vom Wickeltisch rollt sie mir runter. Vorgestern habe ich ihr ein Strumpfhöschen angezogen und sie in die Sonne gestellt, nicht zugedeckt. Zuerst verwunderte sie sich sehr über diese herrliche Angelegenheit. Dann wanderten beide Händchen ins Mäulchen, die Augen strahlten, vergnügtes Grinsen und dann .... Ach du lieber Gott! Ich hatte Angst, der ganze Wagen kippte. Beinchen und Ärmchen wie ein paar heftig gedrehte Windmühlenflügel hin und her. Ich war blos froh, daß ich in Sicherheit vor und nicht

II

ihr Tretobjekt war. Dem wäre es gut gegangen. Sonst macht sie sich aber auch gar nichts draus, mich heftig gegen den Bauch zu treten, zu meiner ganz besonderen Freude. (Ach Bruderherz, ich bin wieder schlank wie eine Tanne! Herrlich! Nischt passt mir, alles muß enger gemacht werden! Ich habe gar keinen Vorbau mehr, auf dem ich alles ablegen kann!)

Im übrigen war sie – Uta – bei der Geburt 51 cm lang, 6445 grm. schwer. Inzwischen wog sie 6650 grm. Was sie jetzt wiegt, weiß ich nicht. Ich will mal sehen, ob ich sie Morgen wiegen lasse. Im übrigen besitze ich augenblicklich noch kein Foto. Sobald ich eines habe machen lasse, bekommst Du selbstverständlich das erste.

Mir selbst geht es wieder gut. Ich habe mich nur ein klein wenig überanstrengt. Außerdem macht es sich bei mir sehr bemerkbar, daß man nicht mehr so viel Fett bekommt. Wo ich jetzt noch stille und selbst erst mal wieder auf die Beine kommen muß, merke ich das doch sehr deutlich. Ich könnte ewig schlafen – Richtig munter werde ich überhaupt nicht mehr. Na, das wird ja auch wohl alles wieder anders werden. Jedenfalls versuche ich, das, was ich durch die Nahrung so nicht mehr bekommen kann, durch übermäßig vieles Obst essen wieder einzuholen. Denn ich möchte vermeiden, daß dem Kind irgendein notwendiger Aufbaustoff nicht zukommt. Und in Obst ist ja so

ziemlich alles enthalten, was man braucht. Ich hoffe, daß so alles klappt.

Jetzt bin ich dabei, mir einen Kinderwagen zu erstehen. Es ist Zeit, daß ich mit dem Kind rauskomme. Dieses Biest ist nur so verdammt teuer. Ich muss mal sehen, wie ich das deichsele. Jedenfalls muss ich einen haben, denn die Kleine muss an die frische Luft.

Ich habe in der Zwischenzeit auch schon allerhand bekommen. 3 Strampelhöschen, 3 Jäckchen, 1 Ausgehgarnitur, ein entzückendes Spielhöschen, 2 Kleidchen, 1 Rassel und eine silberne Rassel. Es sammelt sich so allerhand an.

Günther geht es leider nicht sehr gut. Er hat irgend solch eine dumme Magengeschichte, die ihm viel zu schaffen und mir große Sorgen macht. Na, auch das wird sich hoffentlich wieder geben.

Meine Wohnung ist ideal schön. Hoffentlich kann ich Dich auch mal als meinen Gast empfangen.

Da nebenan wird jemand ungemütlich. Die kennt ihre Zeit so genau wie der Hund sein Fressen.

Also deshalb Schluß. Vielen Dank für Deine Briefe. Ich habe mich riesig gefreut.

Leb wohl, alles Gute. Herzliche Grüße auch von Günther
Deine Schwester Christa