Christa Lehmacher an ihren Bruder Robert Weichelt, 25. November 1940
Frau Christa Lehmacher
Köln-Klettenberg, den 25.11.40
Gottesweg 100 /III 1.
Lieber Robert!
Meine obige Adresse habe ich Dir zuerst angegeben, damit Du Dich gegebenenfalls daran erinnerst, wo ich noch wohne. Bis jetzt scheinst Du mich und meine Familie ja restlos vergessen zu haben, denn wir haben in der ganzen Zeit, die Du jetzt fort bist, noch nicht einen einzigen Gruß von Dir erhalten. Du weißt es doch zu genau, dass ich nicht gerne immer jemand dazwischen habe, der einem sogar Grüße bestellen soll. Soviel Zeit hättest Du bestimmt ja mal irgendwann gehabt, dass Du Deiner Schwester einen Gruß schicktest. Das habe ich denn doch mit Bestimmtheit erwartet. Um so enttäuschter war und bin ich, dass ich anscheinend bei Dir gar nicht mehr vorhanden bin.
Ich möchte nun zunächst mal eine Angelegenheit klären, die zwischen uns steht, und die wichtig genug ist, dass ich mich auch ohne Deinen Gruß an die Maschine setze und meine knapp bemessene Zeit dazu verwende, Dir mal in das Gewissen zu reden.
Wir stehen genau an demselben Wendepunkt, an dem wir vor ungefähr zwei Jahren gestanden haben, als ich Dir offen und ehrlich, wie es meine Art ist, sagte, dass Käthe ja nun meiner Ansicht nach doch nicht die richtige ist, Deine Frau zu werden. Wir beide haben damals vorne im Herrenzimmer gesessen und uns in aller Ruhe darüber unterhalten. Wobei Du mir dann ja auch sagtest, dass Günther nicht der richtige Mann für mich wäre. Ich habe das ebenso in aller Ruhe hingenommen, wie Du meine Meinung über Käthe. Dann aber kam kurz darauf eine Zeit, die ich nie in meinem Leben vergessen werde. Du wendest Dich von und ab und verspannst Dich ganz in die Idee, Irmgard oder vor allen Dingen ich wollten Dir etwas in Bezug auf Käthe. Du wurdest dann ganz der ruhigen Überlegung entzogen und es kam dann zu dem mir unvergesslichen Zwischenfall auf Sylvester, der dann seine direkte tragische Fortsetzung an meinem Hochzeitstage brachte.
Und hier muss ich zu dem Heute einhaken. Ich selbst habe eine Hochzeit gehabt, die an Traurigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Das ist ein Punkt in meinem Leben, den ich wohl nur überwinden werde, denn letzten Endes ist eine Hochzeit ja in den meisten Fällen ein einmaliges Erlebnis und das Erlebnis der Frau, auf das sie ihr ganzes Leben wartet und für das sie alles zu tun bereit ist. Und darum habe ich Emmi gesagt, warum heiratet ihr jetzt im Krieg, warum macht ihr Euch nichts aus dem Tage, der Euch Eure ganze Erinnerung und Euer ganzes Tagebuch in den Schatten stellen wird ...... wenn Ihr so vernünftig sein würdet und Euch diesen Tag für Eure Erinnerung so gestaltet, dass er Euch als ein Glückstag durch Euer ganzes Leben begleiten wird. Das ist mein Argument gewesen und nichts anderes. Alles andere würde ich nicht sagen, auch wenn ich hundertprozentig überzeugt wäre, dass es zwischen Euch schief ginge. Das habe ich mit den gleichen Worten zu Emmi gesagt, und habe fortgesetzt, dass ich mir einmal in einer Deiner Angelegenheiten die Finger verbrannt hätte, trotzdem Du mir vielleicht heute schon dankbar dafür wärst, dass ich mich da eingemischt hätte. Es ist also nicht weiter nötig, dass Du Emmi auch diesen Brief zur Durchsichtnahme schickst, wie Du es ja auch mit den anderen getan hast und tust, egal von wem er kommt. Aber darin kann ich Dir nichts sagen, das tut und vor allen Dingen liest jeder Mensch nach seinem Gefühl und seinem Takt. Außerdem aber schreibe ich Dir jetzt genau das, was ich Emmi bereits gesagt habe und was ich
ihr jederzeit wiederholen kann und werde, wenn sie mich danach fragen sollte.
Zweck meines heutigen Briefes aber ist ein sehr großer Vorwurf, den ich Dir machen muss. Emmi sagte mir, dass sie Dir genau das geschrieben hätte und zwar auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin, was ich ihr an einem Tag der vorigen Woche gesagt habe. Ich habe da einen sehr großen Fehler begangen, dass ich nicht selber geschrieben habe, nicht aus Misstrauen gegen Emmi, etwa weil ich überzeugt bin, dass sie etwas anderes geschrieben hätte, nein – sondern nur, weil sich die Dinge dann anders entwickelt hätten. Emmi hat Dir, wie sie mir sagte, geschrieben, dass diese Dinge zwischen ihr, Günther und mir verhandelt worden sind. Warum hast Du dann nicht den Mut, mir eine Antwort zu schreiben, sondern Dich an Mutter zu wenden mit Deinem Wutausbruch?! Du Weißt genau, dass Mutter gerade und nur für Dich alles, was sie nur irgendwie ihr eigen nennt, für Dich opfern würde. Du könntest alles von ihr Verlangen, Du würdest alles von ihr bekommen. Warum musst Du ihr dann so weh tun. Ihre weinend vorgebrachte Antwort darauf war das an mich gewandte Wort: „Vertragt Euch doch. Zankt euch doch nicht immer!“ Sie hat mir so leid getan. Du weißt oder kannst Dir doch wenigstens denken, dass ich das, was meine Mutter mir an meinem sogenannten Ehrentage angetan hat, nie vergessen werde und dass das eine tiefe Kluft zwischen ihr und mir aufgerissen hat. Wenn ich auch so denke, so bemühe ich mich doch wenigstens, ihr gut zu sein. Denn Du weißt genau so gut wie ich, wenn nicht noch besser, dass Mutter ein verdammt schweres Leben gehabt hat. Die näheren Einzelheiten hierüber können wir uns sparen, denn das wissen wir zu genau. Warum musst Du, gerade Du denn der Mutter, es ist und bleibt doch letzten Endes Deine Mutter ! ! ! !, daran kannst Du nichts ändern, und wenn Du mit zehn Frauen verheiratet wärst, DEINER MUTTER denn mal wieder ein solches Weh antun?! Und kannst Du Dir denn wirklich gar nicht denken, dass Mutter es auch ein bisschen weh tut, dass sie nun ihren über alles geliebten Sohn nicht mehr alleine besitzt, dass sie ihn jetzt und zwar in der ersten Linie an eine Frau abgeben muss? Du kennst doch Mutter und weißt doch, wie sie zu Dir steht, also benimm Dich doch ein bisschen danach.
Was nun aber die streitbare Angelegenheit persönlich betrifft, so möchte ich denn nun doch nicht mehr mit meinen Bemerkungen zurückhalten. Du solltest doch einsehen, dass es für uns alle ein entsetzlich beschämendes Gefühl ist, wenn Du Mutter so bevormunden lässt und zwar durch eine Frau, die uns letzten Endes erst seit 3 Monaten bekannt ist und die vorläufig noch nicht offiziell in unserer Familie aufgenommen ist. Da kannst Du sagen, was Du willst, Emmi ist weder Deine Frau noch Deine offizielle Braut. Du hast sie zwar als Deine Braut hier eingeführt, d.h. Du hast gesagt, dass sie Deine Frau werden wird. Aber vor aller Welt ist die noch keine Familienangehörige! Und Du darfst nicht vergessen, dass auch noch andere Menschen als ihr zwei auf der Welt seit, die sich letzten Endes über diese ein wenig komische Angelegenheit ihre Gedanken machen. Ich habe früher auch nicht auf die Leute geachtet. Aber wenn Du mal so lange verheiratet bist, wie ich, dann wirst Du auch einsehen, dass man nicht ganz ohne andere Menschen leben kann. Und Du in Deiner voraussichtlich nach dem Krieg exponierten Stellung musst Dich von Anfang an darauf aufmerksam machen, dass Du Dir keinerlei Exzesse gestatten darfst. Es steht da unter Umständen mehr auf dem Spiel als nur eine Verliebtheit. Bildest Du Dir denn wirklich ein, Mutter täte so eine Handlungsweise nicht sehr weh. Auch wenn sie nichts sagt!! Denn Du solltest wissen, dass Mutter Dir nie irgend etwas sagen würde, aus dem einfachen Grunde heraus, „weil sie Dich nicht verlieren will“. Bitte, dass sind ihre eignen Worte. Außerdem solltest Du wissen, wie Emmi zu Geld-
angelegenheiten steht. Jedenfalls habe ich bemerkt, dass sie darin sehr eigenartig verfährt. Ein eigener Ausspruch von ihr ist: „Ja, wenn wir verheiratet sind, dann kommt es natürlich nicht mehr in Frage, dass Robert Deiner Mutter Geld gibt.“ Nun kannst Du Dir denken, dass ich um so erschütterter war, als ich hörte, dass Du Emmi in der Weise in Mutters Geldangelegenheiten eingeweiht hast, und sie sozusagen als Preiskommissar über uns eingesetzt hast. Letzten Endes hast Du, wenn Du Mutter nicht so viel Vertrauen schenkst, dass Du ihr das Geld, was sie zur Deckung ihrer Schulden benötigt, persönlich schickst, immer noch Geschwister, die diese Angelegenheiten ebenso in Deinem Sinne ausführen können. Inwiefern das menschlich klar und richtig sein soll, kann ich wirklich nicht verstehen!
Außerdem habe ich nicht im geringsten die Absicht, Emmi das Leben zu verbittern, im Gegenteil, Emmi war, als ich ihr das sagte, sehr vernünftig und meinte, dass ihr das selber sehr komisch und reichlich unangenehm gewesen wäre. Außerdem aber möchte ich mich ganz entschieden dagegen verwehren, dass ich Dir gemeine Handlungen antäte. Das ist mal wieder eines Deiner so beliebten starken Worte, die Du so gerne gebrauchst! Im übrigen kann ich es aber nicht riechen, dass Du einen Marschbefehl am gleichen Tage bekommen hast. Und ich betone hier nochmals, dass Mutter mit der ganzen Angelegenheit nicht das geringste zu tun hat. Übrigens würde ich Dir raten, nächstens, wenn Du mal wieder so „empört“ sein solltest, doch lieber eine Nacht darüber zu schlafen.
Außerdem kann und will ich nicht Dir die Worte wiederholen, die Emmi bei uns über Mutter, Irmgard, Mohrins usw. gebraucht hat. Denn ich spiele ja hier nicht den Angeber, und versuch lediglich eine klare Sachlage zu schaffen. Vor einem aber möchte ich Dich warnen, versuch es nicht noch einmal, mich als Lügnerin hinzustellen, denn dichten tut hier niemand. Ich möchte wohl mal gerne wissen, inwiefern Mutter Emmi auch nur eine Sekunde nicht als ihre zukünftige Schwiegertochter angesehen hätte. Denn Mutter wird immer Dir zu Liebe jeden Menschen so behandeln, wie Du ihn einschätzt.
Außerdem aber weiß ich sehr genau, dass Du solche diktatorischen Briefe sehr gern verfasst, also von „schwer werden“ keine Spur. Emmi hat als Deine, noch nicht einmal offizielle Braut keinerlei Recht zu beanspruchen, das kannst Du auffassen, wie Du willst. Im übrigen aber genießt sie, aus Liebe zu Dir, viel mehr an Rechten, als Irmgard, Günther und ich zusammen. So, das merke Dir bitte. Dein Wille war, dass Emmi hier arbeiten lernen sollte. Von arbeiten keine Spur, außer den letzten acht Tagen, wo sie drüben gehausputzt haben. Aber vorher auch fiel das Wort „Dienstmädchen“. Hiermit ist wohl klargestellt, wie Emmi das von Dir gewünschte Arbeitsverhältnis wertet. Und bei Mutter tut sie verdammt nicht viel, weil einfach nichts zum Arbeiten da ist.
Es ist durchaus keine notwendige Tatsache, dass Emmi, in Deiner Abwesenheit, als unser Diktator berufen wird, denn ihre und Deine Wünsche sind ja Mutters Evangelium.
Deine berühmte Methode aber, Mutter weich zu kriegen, (siehe an die Front-Reisen) brauchtest Du gar nicht erst anzuwenden, denn Mutter war von vorn herein weich.
Du aber sollst Dir gesagt sein lassen, dass ich mir von niemand, und erst recht nicht von Dir, der Du erst noch Deine Erfahrungen in Deiner Ehe sammeln und erweitern musst, in meine Ehe reinreden lasse. Wenn Du nach bald zweijähriger Ehe mit Deiner Frau noch so harmonisch und glücklich zusammenlebst, wie Günther und ich, dann kannst Du erst mal mitreden. Dabei musst Du aber bedenken, dass Du es in vielem leichter haben wirst, als wir, denn bei uns sprachen von Anfang an die zermürbenden finanziellen Sorgen mit und diese Zeiten zählen doppelt. Ich möchte sie Dir nicht wünschen. Zudem darfst Du auch nicht ver-
gessen, dass meine ganze Familie sich von Anfang an gegen meinen Mann eingestellt hat, und ihn demgemäss behandelte. Dass von seiner Seite die Reaktion darauf kommen musste, ist nur zu verständlich. Ich habe bei meiner Schwiegermutter ja auch nicht gerade das reinste Entgegenkommen gefunden. Man vergisst in der Einstellung zu Günther ganz, dass er ja noch einfach von irgendwo hergelaufen kam, sondern aus einer sehr angesehenen Kölner Familie stammt. Damit hat es gar nichts zu tun, wie man mir auch heute noch zum Vorwurf macht, dass er damals arbeitslos gewesen ist, Du bist es ja seiner Zeit auch gewesen.
Von Dir aber möchte ich gern 2 Fragen beantwortet haben.
1.) Inwiefern haben Günther und ich getrennte Interessen und
2.) Inwiefern haben Günther und ich Geheimnisse voreinander?
Ich kann mir nur denken, dass da ein Vertrauensbruch begangen worden ist. Sonst müsste ich Dich doch sehr bitten, mir einen genaueren Bericht darüber abzugeben, was Du unter diesen „Geheimnissen“ verstehst! Gott sei Dank haben wir noch Geheimnisse voreinander und ich möchte sie nie in unserer Ehe missen. Günther ist bis heute noch nicht in die finanzielle Lage von Mutter eingeweiht u. auf der anderen Seite bin ich über die Vermögensverhältnisse meiner Schwiegermutter nicht im geringsten orientiert. Das möchte ich mir auch sehr verbitten.
Was die getrennten Interessen anbelangt, so unterscheiden sich die unsrigen nur dadurch, dass wir verschiedene Arten von Musik lieben. Ihr aber dürft nicht vergessen, dass Du, lieber Robert, ein Norddeutscher, sogar ein Westfale bist, während Emmi eine typische Ostmärkerin darstellt. Vor der Ehe sind die Interessen ja immer gleich, aber in der Ehe ändert sich manches.
Von einem Angriff meinerseits auf Emmi kann gar keine Rede sein. Wenn Emmi hysterisch wird, kann ich nichts dazu. Ich habe ihr mehr als nur einmal auch im Beisein anderer wiederholt, dass ich es nur gut mit ihr und Dir meine, wenn ich ihr so manches sage. Ebenso sagte ich ihr, dass ich euch vor manchem behüten möchte, was wir in unserer Ehe aus Unwissenheit verbockt haben, denn zu uns war keiner so ehrlich, wie wir zu euch. Aber alles, was man euch zu sagen hat, verbindet ihr mit einem bösen Willen meinerseits u. schlagt es in den Wind. Zudem werdet ihr da noch hysterisch.
So, mein lieber Robert, und damit habe ich Dir endlich einmal alles das gesagt, was mir seit einiger Zeit auf dem Herzen liegt. Ich weiß, dass Du nun zunächst „empört“ bist und Dich wahrscheinlich von Deiner Wut hinreißen lässt. Ich möchte Dich aber nun doch dringend bitten, lass wenigstens eine Nacht, wenn nicht einige Tage verstreichen, ehe Du auch nur irgend jemand über diesen meinen Brief schreibst. Du solltest Dir erst einmal in Ruhe überlegen, wie dieses alles gemeint ist, und es so auffassen, wie ich es Dir schreiben wollte. Solltest Du aber zu dem Entschluss kommen, dass es so nicht weitergeht und mit mir dasselbe Theater anfangen, wie es seinerzeit war, dann möchte ich Dich wirklich allen Ernstes um eines bitten: lass uns Weihnachten, wenn wir Weihnachten zusammen feiern sollten, in Ruhe und Freundlichkeit mitsammen sprechen. Ich werde Mutter nichts davon sagen, dass ich Dir geschrieben habe. Und darum möchte und erwarte ich es auch von Dir, dass Du Mutter in Ruhe lässt und sie in dem Glauben lässt, dass zwischen uns allen alles in bester Ordnung ist. Und darum lass uns Weihnachten in aller Ruhe und Gemütlichkeit feiern, Mutters wegen.
So und nun wünsche ich Dir alles Gute und hoffe, dass sich alles wieder einlebt.
Herzlichen Gruß
Christa