Ursula Lindemann an Lotti, 15. August 1943
II
Köln, den 15. August 1943
Meine liebe Lotti,
Nun habe ich diese Nacht so schön und ruhig schlafen können, und Du arme Lotti hast die ganze Zeit im Zuge sitzen müssen, und mußt es noch jetzt. Wie wirst Du wohl in Dresden ankommen. Gewiß hast Du großen Hunger ausgestanden, denn die Brote waren doch für eine 15 Stunden lange Fahrt viel zu wenig.
Gestern abend habe ich mir solch ne Mühe gegeben, aber nachher war mein Kopfkissen doch naß. Du hattest das ja schon voraus geahnt. Heute habe ich schon viel an Dich gedacht, denn im Radio hörte ich die 5. Sinfonie und den 2. Satz des Violinenkonzerts von Max Bruch. – Ich überlege immer noch ob ich den Brief von gestern abend Dir schicken soll oder nicht. Wie wirst Du ihn auffassen? Ich habe mich wirklich schrecklich falsch und dumm ausgedrückt. Liebe Lotti, bitte sei nicht böse, sondern behalt mich lieb.
Morgen werde ich ja endlich erfahren wie alles mit meiner Schule wird. (Ich kann mir ja kaum denken wie alles werden soll) wenn wir nur nicht doch weg müssen. Aus meiner Klasse werden nicht viele hier bleiben. Um Gotteswillen, ich höre unten Legunes. -
16.8.43. Ein Glück, es war nur Frau Legune, die Helmie be-
suchen wollte. Wir hatten schon einen großen Schrecken bekommen.
Heute war ich nun in der Schule. Wir wurden gleich freundlichst im Keller empfangen, denn es war Alarm. Zuerst waren aus meiner Klasse nur zwei da, aber es fanden sich noch fünf ein. Nachdem wir 2 Stunden im Keller verbracht hatten, versammelte sich die zusammengeschmolzene Kaiserin-August-Schule in der ausgebrannten Aula. Dort erfuhren wir, daß wir noch bis zum 26.8. Ferien haben und uns am 26. um 2 Uhr am Georgsplatz zusammen finden sollen. Wir haben dann einige Wochen, 2 oder 3 mal in der Woche, dort Unterricht. Bis dahin wird hoffentlich unsere alte Schule am Sachsenring wieder hergerichtet sein, so, daß wir wieder regelmäßigen Unterricht haben können. Ich bin glücklich, daß sich nun alles so zum Guten gewendet hat. Aber leider hat Vater immer noch die Idee im Kopf mich in das Landschulheim zu schicken. Gestern habe ich Herrn Küchle geschrieben, er möchte diesen Plan Vater wieder austreiben. Hoffentlich gelingt es.
Heute haben wir so herrliches Wetter, daß ich die ganze Zeit draußen im Garten bin. Wärst Du da, könnten wir beide schön zusammen in der Sonne liegen. – Wie wird es Dir wohl jetzt in Dresden gehen in dem Krankenhaus. – Gib nur gut acht, daß Du Dich nicht ansteckst, ich möchte nicht, daß Dir etwas zustößt, hörst Du?
Es ist jetzt schon sehr spät, aber ich kann noch nicht schlafen. Draußen ist der Mond riesengroß und so schön, hell und silbernd leuchtet er. Ob er jetzt auch bei Dir so schön strahlt, und Du ihn siehst. Denke jetzt nicht, ich sei mondsüchtig geworden. Aber Du weißt ja selbst wie schön Vollmond ist. – Trotz all dieser Schönheit bin ich heute abend garnicht glücklich. Jeden Tag fängt Vater von Neuem an, mir zu sagen, daß ich weg soll, und jedesmal bin ich darüber wieder neu entsetzt. Mutti und ich werden garnicht mehr schlau aus ihm. Auf jeden Fall erinnert er uns jeden Tag daran, ich bin schon ganz verzweifelt. Warum muß das denn sein, wo doch die Schule wieder vernünftig wird, und andere Mädels bleiben doch auch. Herr Küchle hat mir dies eingebrockt, und jetzt soll er mir auch wieder aus der Patsche helfen. -
17.8.43 – Gestern abend habe ich mich regelrecht in Wut geschrieben, und da habe ich lieber aufgehört. Heute ist ein wunderschöner Sonnentag und ich habe gute Gelegenheit in der Lindenallee zu ernten. – Gerade geht der 2. Großalarm los. – Liebe Lotti, Du hast heute schon Deinen 2. Arbeitstag im Krankenhaus. Hoffentlich ist die Arbeit nicht zu anstrengend und befriedigt sie Dich. Bitte strenge Dich nicht zu sehr an, und gehe auch, wenn Du Zeit hast, etwas an die frische Luft. – Wie gefällt Dir Dresden, hast Du Dir schon einiges ansehen können? Ist Lotte Kretzer schon bei Dir, oder bist Du noch ganz allein? Und bist Du mit Deinem Zimmer zufrieden? – Ich überfalle
Dich so sehr mit Fragen, aber es interessiert mich doch sehr wie Du es angetroffen hast, und vor allem, möchte ich mir Dein neues Leben ein wenig vorstellen und alles was Du erlebst, verstehen und miterleben können. - -
Das war ein Ernten mit unangenehmen Störungen. Gleich auf dem Hinweg zur Lindenallee ging Alarm los. Danach fing es bald heftigst an zu schießen und ich bin schnell wieder nach Hause gerast. Auf der Militärringstraße konnte ich kaum etwas sehen, denn die Vernebelung der Brücke wurde nach Marienburg getrieben. Nachher, wie ich wieder im Garten war ging noch der 4. Alarm los, aber diesmal ließ ich mich durch Vernebelung und Schießerei nicht stören und erntete eifrigst meine Pflaumen weiter. Die feindlichen Flieger konnte ich gut erkennen, sie kamen in Sechserreihen geradewegs über mich weg geflogen. -
Ob ich wohl bald von Dir Nachricht bekomme? Ich freue mich ja schon sehr von Dir zu hören. Wie heißt eigentlich Dein Krankenhaus? Ist es das Friedrichs-Krankenhaus in der Friedrichsstraße? Das ist in der Nähe der Marienbrücke. Ich habe mir das im Lexikon angesehen und fand nur dieses Krankenhaus. Oder ist es das Johannstädterkrankenhaus bei der Schubertstr. und der Trinitatisstraße am Georg-Gymnasium?
Heute hörte ich, daß wir mit der Schule gleich in unserer Alten am Sachsenring beginnen werden. Ich wäre sehr froh, wenn das der Fall isst, denn dann besteht vielleicht doch die Möglichkeit, daß ich hierbleiben kann. – Nun meine liebe, gute Lotti schlaf recht schön und sei sehr gegrüßt.
Ein lieber Kuß von Deiner Ulla.