Ursula Lindemann an Lotti, 25. Januar 1944

Köln, den 25.1.1944

Meine liebe Lotti,

Leider muß ich Dir auf diesem schäbigen Papier schreiben, aber ich muß sprungbereit sein um in den Keller laufen zu können, und habe daher augenblicklich nichts besseres griffbereit. Die Flugzeuge surren schon die ganze Zeit herum, und wir wissen nicht ob es eigene oder feindliche Flieger sind. Unser Kurierdienst redet heute regelrecht in Rätseln für uns. Immerzu wird „Rakete, Donnerkeil“ gerufen und die Zeit angesagt.

Nun will ich Dir aber erst einmal für Deinen lieben Brief, über den ich mich sehr gefreut habe, danken. Wie leid tut mir, daß Du Ärmste krank zu Bett liegen mußt. Hoffent-

lich geht es Dir recht bald besser und Du kannst Dich wieder ganz Deinen Arbeiten widmen. Ich kann Dir so gut nachfüllen, wie deprimierend es für Dich sein muß, so mitten aus Deinem Schaffen herausgerissen zu werden. Aber Du wirst das Versäumte doch gewiß schnell wieder nachholen können. -

In unserem Biologieunterricht beginnen wir am Mittwoch die Vererbungslehre, und damit auch die Mendelschen Gesetze zu besprechen. Ich freue mich schon darauf das zu lernen, womit Du Dich auch augenblicklich beschäftigst. Gestern habe ich mit Vater unsere Bücher gewälzt, und im Lexikon etwas über Gregor Mendel gelesen. In unseren Schulbüchern steht ja leider alles so unklar und unbegreiflichz. -

Heute waren wir im 8. Gürzenich-Konzert. Es wurde das Trippelkonzert für Violine, Violincello u. Klavier von Beethoven gegeben. Ich hatte es erst einmal

gehört, und so war es für mich ein besonderer Genuß diese Musik auf mich wirken zu lassen. Außerdem hörten wir eine reizende Sinfonie von Haydn, Nr. 13. in d-Dur, eine Fantasie v. Pfitzner und eine romantische Suite v. Reger. Im Ganzen war es wieder viel zu viel auf einmal. Mit den letzten beiden Stücken sind Mutti und ich garnicht zu recht gekommen. – Vorhin hörte ich im Radio mal wieder etwas besonders Schönes. Die 3. Leonoren Ouvertüre und mein Adagio aus dem Bruchschen Violinenkonzert. Als letzteres erklang, habe ich mich im Dunkeln ans Radio gesetzt und mich ganz diesen wunderschönen Klängen hingegeben. Als dann am Ende der olle Alarm draußen los ging, wollte dies so garnicht zu meiner Stimmung passen.

Von Klaus haben wir Samstag Nachrichten erhalten, die weniger erfreulich sind. Er hatte 3 cm. hinter dem rechten Ohr einen kleinen Splitter in die Haut bekommen, und auf diese Verwun-

dung hin hatte er 6 Tage Ruhe beim Tross erhalten, und konnte uns nun den Vorgang des Kampfes genau schildern. Am 1. Januar hatten d. Russen einen Vorstoß gemacht und seine Leute überrascht. Sie wehrten sich mit aller Kraft, aber leider vergeblich, und mußten zurückgehen. Dabei mußten sie alles, was sie bei dieser Flucht hinderte wegwerfen. Schließlich waren nur noch Klaus und einige seiner Kameraden übrig, die um ihr Leben rannten. Hinter jedem einzelnen waren, in ungefähr 2-3 m. Abständen, Panzer her, die nicht auf sie schossen, sondern sie überfahren wollten. Wie Klaus seinen Verfolgern entronnen ist, weiß er selber nicht mehr. Er muß rein instinktivmäßig gehandelt haben. Es ist zu schrecklich sich dies alles vorzustellen. Wir hoffen alle, daß Klaus sonst verschont bleibt und heil wieder nach Hause kommt. – Von Hans erhalten wir recht muntere und zufriedene Briefe,

die uns immer viel Freude machen.

Hier bei uns in Köln ist es in der letzten Zeit recht gefährlich. In so vielen Straßen stürzen bei dem Sturm die Häuser ein, und so passieren immerzu viele Unglücke. Einmal ist in Kalk ein Haus auf die Straßenbahn gestürzt, und gestern erlebte ich, wie vor mir 4 Frauen und 2 Kinder unter dem Geröll und Schutt begraben wurden. Eine der Frauen war gleich tot, die anderen konnten zum Glück gerettet werden. Man ist wirklich nirgends mehr seines Lebens sicher. Und solche Erlebnisse wirken immer so bedrückend auf einen. -

Gestern haben wir unsere Schulstunden mehr oder weniger alle im Bunker neben unserer Schule verbracht. Ebenso ging es in der vergangen Nacht. – Endlich ist Entwarnung. Hoffentlich hast Du meine entsetzliche Schrift entziffern können. – Werd recht schnell wieder gesund und grüße bitte Deine Mutter u.

Gisela herzlich von mir.

Schlaf recht gut, und nimm einen lieben Guten Nacht Kuß von

Deiner Ulla.