Ursula Lindemann an Lotti, 25. Dezember 1943

1. Weihnachtstag 1943

Meine liebe Lotti,

Welch eine große Freude hast Du mir mit Deinem Büchlein gemacht, welches heute am Weihnachtsmorgen mit der Post ankam. Ich habe gleich schon darin geschmökert. Du liebe, gute Lotti. Dein Brief hat mich sehr froh gemacht. Ach Lotti, ich habe Dich ja so lieb. Ich habe mich doch sehr nach Dir gesehnt, und da kam als ein lieber Gruß von Dir Deine Post.

Ich sitze nun hier oben und habe mir das Radio angestellt. Augenblicklich höre ich das Klarinetten Konzert v. Mozart und nachher wird die Unvollendete v. Schubert gegeben.

Den ganzen Morgen läuten irgendwo in der Ferne Glocken, die schwach zu uns herüber klingen. Leider haben wir heute garkein schönes

Weihnachtswetter, es schüttet eimerweise vom Himmel, und es ist so neblig, regelrecht trostlos.

- Wie wird der arme Klaus es jetzt in Russland haben? Und Hans, der so sehr gehofft hat, doch noch Weihnachtsurlaub herauszuschinden. Jedesmal wenn die Schelle geht eilen wir schnell zur Türe mit der Hoffnung er sei es, doch leider ist es immer vergebens. Vater ist heute erschreckend bleich und ganz in sich versunken. Er sitzt vor Bobs Bild und mir scheint es fast, als sei er bei Bob. Wenn ich ihn so da sitzen sehe, werde ich ganz verzweifelt. Er kann diesen Schmerz nicht überwinden. Ich möchte so gerne helfen, es ist so schrecklich. – Gerade ertönt die Unvollendete. Ob Du sie jetzt auch hörst? Das Hauptthema kehrt wie ein ängstliches Klagen immer wieder, und das sehr schwermütige Geigenmotiv wirkt in dieser Stimmung besonders ergreifend. Ganz leise stimmen die Geigen die wehmütig wiegende Melodie an, und dann wächst das Thema wie zu drohender Gewalt empor. Es ist so schön

und wirkt auf mich so eigenartig traurig und tröstend zugleich. Der 2. Satz verstärkt diese Stimmung. Die Flöten bringen eine rührend, schlichte Weise, ängstliches Fragen, doch gleich setzt die Geige ein, beschwichtigt das zaghafte Klagen. Trost und Trauer wechseln miteinander, ganz leise schreitet dieses Thema seinem Ende zu, und dringt mir tief ins Herz herein. Diese 8. Sinfonie wenn sie auch mit ihren 2 Sätzen unvollendet heißt, so ist sie für mich vollendet. Ich kann mir garnicht einen 3. u. 4. Satz dazu denken. Wie sehr sie mich beeindruckt hat kann ich garnicht sagen. Ich wünschte nur, daß Du sie jetzt auch gehört und sie mit mir gefühlt und empfunden hast.

Ich muß nun schließen und Mutti noch etwas helfen. Dir recht herzlichen Dank für das Päckchen. Und nun leb wohl für heute. Es grüßt Dich sehr

Deine Ulla.

Bitte grüße Deine Mutter und Gisela von mir.