Ursula Lindemann an Lotti, 10. Mai 1943

[Zum Anfang]

Köln, den 10.V.43.

Meine liebe Lotti!

Eben kam ich von einer wunderschönen Radfahrt mit Brigitte nach Hause. Wir sind mal wieder ins Blaue geradelt. Das Wetter ist herrlich, die Sonne strahlt von einem wolkenlosen, tiefblauen Himmel. Wir sind ganz weit nach Bonn rauf gefahren, bis wir zu einem kleinen Wäldchen kamen, wo wir viele Fasane, junge Häschen und eine Ricke mit einem Kitzchen sahen. Die Häschen spielten auf einer kleinen Wiese, die von schönen, großen Tannen eingeschlossen war. In der Mitte stand eine riesige uralte Birke, deren heller Stamm und zierlichen Zweige wunderschön gegen den blauen Himmel leuchteten. Es war so ein friedliches Bild, daß wir uns gar nicht davon trennen konnten. Aber die lustigen Häschen hatten uns inzwischen gewittert und hoppelten eiligst davon.

In einer Lärche fanden wir ein niedliches Vogelnest, das aus vielen kleinen Zweigen und Federn gebaut war. Und stell Dir vor, vier winzige, hungrige Schnäbelchen schauten daraus hervor. Zu nett sah das aus. In der Nähe flog die Spatzenmutter aufgeregt schimpfend herum. Wir hatten Mitleid mit ihr und erlösten sie von ihrer Angst und gingen schnell weiter. Auf der Rückfahrt sahen wir noch viele Elstern, die auf einer großen Pappel scheinbar eine Volksversammlung hielten, denn sie kreisch-

ten alle sehr aufgeregt durcheinander.

Wir kamen an einem Gutshof vorbei, wo auf einer Weide mehrere Schafe grasten, auch einige kleine waren dabei. Wir liefen natürlich begeistert hin, rissen Löwenzahnblätter, die sie besonders gerne fressen, vom Wegrand und fütterten sie. Die Jungen waren zuerst sehr scheu, aber als sie sahen wie zutraulich die Alten uns aus der Hand fraßen, drängten sie sich dicht an uns heran, daß wir von der Herde ganz eingeschlossen waren. Ein ganz winziges, welches kaum größer als unser Jeckie war, habe ich mir geholt, und konnte mich kaum davon trennen. Mit einer Menge hübscher Blumen sind wir nach Hause gekommen und sind froh, daß wir so viel Lebendiges beobachten konnten.

Heute erhielt ich Deinen lieben Brief, hab vielen Dank dafür. Das Du meinen einen Brief nicht erhalten hast, finde ich recht seltsam, ich habe ihn doch nach Schwetzingen geschickt. Vielleicht ist es ganz gut, daß er nicht ankam. -

Heute hast Du nun mit Deinen Vorlesungen angefangen, hoffentlich ist es nicht all zu schwer für Dich am Anfang und Du hast nicht zu viele Enttäuschungen.

Ich denke viel an Dich in Deiner neuen Heimat und bin froh, daß es Dir dort so gut gefällt. Ist Deine Mutter am Freitag gut angekommen? Grüße sie und Gisela bitte herzlich von mir. Liebe Lotti, Du fehlst mir wirklich sehr! Dir viele liebe Grüße von Deiner