Ursula Lindemann an Lotti, 31. Dezember 1943
Köln, den 31.12.43.
Meine liebe Lotti!
23.30 Uhr. Nun ist in einer halben Stunde das Jahr 1943 zu Ende. Wir sitzen alle am Weihnachtsbaum, dessen Lichter wir heute ausbrennen lassen. In den durchsichtigen Glaskugeln spiegeln sich die Kerzenflämmchen tausendfach wieder, und flimmernde Strahlen werden von einem Licht zum Anderen geworfen. Der warme, wohltuende Glanz flutet durch das ganze Zimmer, und hüllt uns alle ein. Eingesponnen in diesen letzten Weihnachtsschein erwarten wir das junge, aufziehende Jahr. Ganz still ist es. Die Eltern sitzen versunken da und blicken immer und immerzu in den strahlenden Lichterglanz. Ich bin ganz allein mit mir – und Dir. Und das ist schön so. -
Im Radio erklingt leise eine wunderschöne Romanze für Violine von Beethoven. Zart schwingt sich die Melodie der Geige über uns weg. – Langsam verlöschen die Lichter am Baum, und ebenso langsam erlöscht das alte Jahr zuckend, sich gegen das Ende sträubend, flackern die Flämmchen.
Dunkler und dunkler wird es. Nur noch 5 Kerzen leuchten in der Dunkelheit, und unheimliche Schatten tanzen an den Wänden. Und nun erklingt in diese schöne und friedliche Sstimmung der schwermütige 2. Satz aus dem Violinenkonzert v. Bruch. Wenn man still zuhört versinkt man ganz in diese Musik. Es ist wunderschön -
Noch 2 Minuten, dann sind wir im Jahre 1944. Langsam, langsam nähert sich der Uhrzeiger der 12. -
Nun läuten die Kölner Domglocken
das neue Jahr ein.
Meine liebe Lotti, Dir, Deiner Mutter und Gisela wünsche ich ein recht gutes neues Jahr, und alles, alles Gute
Deine Ulla.