Ursula Lindemann an Lotti, 22. November 1944
Nr. III. Köln, den 22. November 44.
Meine liebe, gute Lotti!
Gestern schon wollte ich Dir schreiben, aber ich hatte nie die Ruhe dazu. Am Abend hatte ich schon angefangen und da kam mir wieder 2 x Vollalarm dazwischen. So will ich es jetzt tun, obgleich es mir schwer wird. -
Ja, Lotti, gestern vormittag traf ich ganz unvermutet Ursel Ebel in Bayental, die mir Deine Grüße bestellte und Deinen lieben, langen Brief gab, der mich sehr bewegt hat. Ach Lotti, ich würde ja so gerne, ich kann es Dir garnicht sagen, wie liebend gerne, zu Euch rauf kommen. Aber ich schrieb es Dir ja vor einigen Tagen schon, daß es nicht geht. Jetzt, da die Front so sehr nahe gerückt isst, und wir um unser Bleiben hier in größter Sorge sind, ist ein Zurückkommen wohl ganz
unmöglich, und das darf ich den Eltern nicht antun, ihnen auch noch die Sorge um mich aufzuhalsen. Wer weiß, ob wir uns dann jemals wiederfinden. Wenn es hier soweit kommt, daß wir alle fort müssen, so fahren wir, wenn es noch möglich ist, nach Haltern. Und wenn wir nach Haltern nicht mehr durchkommen, so müssen wir eben versuchen in Mitteldeutschland irgendwo unterzukommen. – Aber es ist noch nicht ganz entschieden, was nun aus mir wird. Wenn ich selbst entscheiden müßte, dann wüßte ich auch nicht was tun. Du weißt ja bestimmt, daß ich selig wäre, wenn ich zu Euch raufkommen könnte. Aber die große Sorge um zu Hause ließe mich auch nicht zu Ruhe kommen. Außerdem geht es ja jetzt nicht um mich. – Liebe, gute Lotti, ich danke Deiner Mutter und Dir innigst für die so liebe Einladung. Es tut mir sehr, sehr leid, daß nichts
daraus wird. – Als ich Ursel Ebel traf, war ich so froh, als ständest Du selbst vor mir. Morgen fahre ich zu ihr in die Lindenallee und sage ihr Bescheid und gebe ihr diesen Brief mit. Vielleicht fährt auch Mutti mit und dann wird sich alles entscheiden. -
Was Du mir von Hansa schreibst, hat mich sehr traurig gemacht. Ich kann nun nur noch mit Euch hoffen, daß es ihm doch noch gelungen ist, sich im richtigen Moment durchzuschlagen. – Von Hansel haben wir noch einigermaßen beruhigende Nachrichten. Der letzte Brief ist vom 2. November, den er einem Freund nach Dresden mitgab. Er war leicht verwundet, aber es geht ihm trotz allem doch noch gut. Er steht jetzt am Duklapaß, wo auch andauernd sich Kämpfe abspielen. Von Klaus haben wir nichts gehört. Wir haben kürzlich an eine Auskunft der Wehrmacht geschrieben und warten nun in bangem Hoffen
auf die Antwort. -
Daß Du, liebe Lotti, im Polizeikrankenhaus in Schriesheim Deinen Facheinsatz machen kannst, freut mich sehr. Ich warte gespannt auf Deinen ersten Bericht über Deine neue Arbeit. Wie schön ist es, daß Ihr, Deine Mutter, Du und Gisela noch zusammenbleiben könnt. Gisela hat ja auch großes Glück, daß sie nicht an der Maschine in der Rüstung zu arbeiten braucht sondern ins Büro gekommen ist. Wo ist eigentlich in Schriesheim die Rüstungsfabrik? – Ich versuche hier alles mögliche, um auch wieder eine richtige Betätigung zu bekommen, aber hier in Köln ist das einfach unmöglich. So helfe ich hier zu Hause und bin den ganzen Tag auf Trapp um nicht mit meinen vielen Gedanken allein zu sein. Heute morgen hörten wir erschütternde Nachrichten, die uns alle sehr erschrocken haben. Die Amerikaner haben die Kölner Bucht erreicht und stehen kurz vor Düren.
Das Schießen, das vorgestern abend und gestern nachließ, ist seit dieser Nacht wieder ununterbrochen zu hören. Obgleich wir Ostwind haben und es in Strömen gießt, hören wir doch ständig das Grollen und sind ziemlich niedergedrückt. -
Liebe Lotti, da kam gestern Dein Brief mit dem wunderbaren Vers von Goethe gerade recht. Er hat mir wieder Mut gegeben und ich geb mir Mühe, ihn nicht mehr zu verlieren. Ja, Du hast recht, wir müssen diese Zeit heroisch durchleben, nur so können wir das alles überleben. -
Kann Maria Dich jetzt nicht einmal besuchen, da sie doch bei Nürnberg wohnt? Es wäre doch so schön für Dich.
Daß Ihr Euch noch öfters etwas Schönes auf den Platten anhören könnt, ist ein Glück. Denn gerade jetzt kann einem die Musik so viel geben und helfen. Wenn Du Dir noch einmal die Erica anhörst, dann laß mich in Gedanken bei Dir sein und sie mit Dir anhören.
Ich habe solche Sehnsucht, mir wieder etwas Schönes anzuhören, irgend eine Beethoven-Symph. oder unser Violinenkonzert von Bruch, oder Brahms – ach, was wäre das schön. Ich spiele öfters abends etwas Klavier, aber mir fehlt immer die innere Ruhe dazu. -
In 4 Wochen haben wir Weihnachten. Wo werden wir es in diesem Jahre verleben und wo mögen die Brüder und Hansa dann wohl stecken? Man wagt nicht daran zu denken, was in 4 Wochen alles sein kann. -
Wir sind hier bald ganz allein und fühlen uns auch recht verlassen. In unserer Wolfgang-Müller-Str. sind wir bald die einzigen, die noch ausharren, alle unsere Nachbarn haben Köln fluchtartig verlassen. Besonders leid tut es mir, daß nun auch Professor Bertram fort ist. Wir waren im letzten Jahr viel näher mit ihm zusammengekommen und haben viele schöne Stunden mit ihm verlebt. Auch teilte er unsere Bunkergemein-
schaft mit uns, und wir haben manche schrecklichen Stunden zusammen verbracht und um unser Leben gebangt.
Ich bin nun auch ganz allein hier, Brigitte und alle anderen sind schon lange fort. -
Ich muß nun schließen, und nach Bayental fahren um unsere Besorgungen zu machen und die Post abzuholen, die wir jetzt wieder Montags, Mittwochs und Freitags abholen können.
Liebe Lotti, hab nochmal vielen Dank für Deinen Brief und all die Liebe, die Du uns gibst. Hoffentlich bleibt Ihr von den schrecklichen Fliegerangriffen weiterhin verschont. Grüße bitte Deine Mutter und Gisela schon von mir.
Nimm Du innige Grüße und einen lieben Kuß von
Deiner Ulla.
23.11.44
Liebe Lotti!
Es ist noch sehr früh am morgen, aber ich kann nicht mehr schlafen, ich bin zu unruhig, weil
sich heute ja alles entscheiden wird.
Gestern holte ich auf der Post Deinen lieben Brief vom 29.10. Hab vielen Dank für ihn. Nun trudeln allmählich alle Deine Briefe ein. Ich werde in den letzten Tagen wirklich ganz doll verwöhnt; jeden Tag ein Brief von Dir – das ist ja schön.
Du hast ja nun inzwischen alle meine Nachrichten nach den entsetzlichen Angriffen erhalten. Uns kommt es wirklich wie ein Wunder vor, daß wir hier in unserem Haus noch wohnen können und überhaupt, daß wir noch leben. Nach dem ersten Schrecken geht es uns nun schon wieder ganz gut. Ich glaube, ich habe Dir manchmal recht verzweifelt geschrieben.
Es war aber auch zu grauenvoll, als jeden Tag fast ohne Unterbrechung die fürchterlichsten Angriffe auf uns niederhagelten. Man konnte wahrhaftig den Mut verlieren. Aber wir hoffen nun sehr, daß wir das Schlimmste schon überstanden haben. -
Wenn wir fliehen müssen, nehmen wir, wenn wir mit dem Wagen fahren, unser
Viehzeugs alle mit. Auch die Kanarienvögel. Ich hab mit Mutti deswegen schon gesprochen, denn die Tierchen mit Äther sachte einzuschläfern bringe ich einfach nicht fertig, wenn es auch schmerzlos ist, sie sind mir viel zu lieb geworden. Jacky und die Katzen müssen auch mit und die Kaninchen müssen wir wohl oder übel vorher aufessen. -
Heute gießt es auch wieder fürchterlich.
Endlich haben wir einmal reichlich Wasser. Oben steht fast in jedem Zimmer eine große Waschbütte um den Regen aufzufangen. Unsere Wasserknappheit ist wirklich ein grauenvoller Zustand. Ich renne meist 4-5 x tägl. oder auch noch öfters zur Pumpe nach Rodenkirchen, habe aber meistens die Hälfte wieder verschüttet wenn ich zu Hause endlich ankomme.
So, ich werde nun aufstehen und jetzt schnell zur Pumpe laufen, denn so früh am morgen brauch ich hoffentlich nicht so lange anzustehen.
Es grüßt Dich in herzlicher Liebe
immer Deine Ulla.