Ursula Lindemann an Lotti, 3. Oktober 1944

Köln, den 3.10.44.

[11.10.]

Liebe, gute Lotti!

Ich sitze hier in meinem Zimmer so halbwegs im Dusteren und will schnell Deinen lieben Brief beantworten. Das Licht streikt mal wieder, und so muß ich halt bei Kerzenbeleuchtung schreiben. -

Dein Brief kam heute wirklich zur rechten Zeit. Nach all dem Unerfreulichen heute in der Fabrik, hatte ich, als ich nach Hause kam, garnicht mehr an die Möglichkeit, einen Brief v. Dir vorzufinden, gedacht, und war daher umso mehr überrascht und sehr, sehr froh, einen so lieben Brief von Dir zu erhalten. –

Wenn ich den heutigen Tag noch einmal überdenke, rege ich mich immer wieder von neuem auf. Ich will Dir das garnicht alles erzählen, sonst müßte ich wahnsinnig viel schreiben. – Denk Dir, von uns 22 Mädchen, die vor 3 ½ Wochen voller Begeisterung u. Lust ihren Einsatz bei Paffrath begannen, sind nur noch 4 da. Alle anderen haben schlapp gemacht oder schwänzen. Daß unsere Betriebsleiter und der Chef darüber sehr ärgerlich sind, kannst Du Dir ja vorstellen. Aber deswegen braucht man noch lange nicht die Wut an uns 4en auszulassen u. uns ungerecht zu behandeln. Es hat heute wirklich viel Unerfreuliches gegeben. – Wir sollen jetzt bis abends 20.15 Uhr arbeiten. Ach, das ist alles so scheußlich, ich mag garnicht mehr dran denken. Ich habe mich

furchtbar aufgeregt. Christiane hat auch schon aufgehört. Mir ist es schleierhaft, wie die das alle anstellen. Ich war schon mehrfach beim Bann, aber die lassen einen nicht von Paffrath los. Ich könnte höchstens noch in eine Lederfabrik in Buchforst. Aber da käme ich ja vom Regen in die Traufe. Außerdem will ich garnicht weg, wenn nur die Arbeitszeit geändert würde. Vater will Ende dieser Woche einmal selbst zu Herrn Paffrath gehen. Hoffentlich kann er etwas erreichen. Zum Glück sind die anderen 3 Mädchen, die noch da sind, ganz besonders nett und auch aus der Kaiserin Augusta Schule. -

Heute hatten wir schon wieder einen recht unangenehmen Angriff, den 3. in einer Woche. Zu allem Unglück bekam ich heute vormittag wieder

einmal solch eine ekelhafte Darmgeschichte. Obwohl es mir wirklich schlecht ging, ließ man mich nicht nach Hause gehen. Den Nachmittag habe ich mich dann an der Maschine abgequält und bin dann am Abend aufgelöst nach Hause gekommen. – Eigentlich wollte ich Dir das garnicht alles schreiben, damit Du Dich nicht auch noch darüber aufregst, aber nun ist es mir doch unter der Feder herausgerutscht. – Heute abend geht es mir wieder ganz gut und ich bin trotz der Müdigkeit ganz munter. Morgen werde ich krank feiern und den ganzen Tag im Bett bleiben. -

Liebe Lotti, daß Du doch in die Rüstung willst, kann ich so gut verstehen. Aber ich wünschte Dir wirklich, Dir bliebe dies erspart. Wer weiß, wie Du es antreffen wirst, vielleicht noch

tausendmal schlimmer als ich, da doch die meisten Arbeitsstellen u. Rüstungsbetriebe schon von neuen Hilfskräften überfüllt sind. Ich sehe es doch in unserem Betrieb. Täglich kommen neue Frauen hin, so daß garnicht mehr genug Arbeit für sie da ist. Und das hört man von allen anderen Stellen auch. Und daß Du, wo jetzt doch so viele Kräfte herangezogen sind, dann in einen Betrieb kommst, wo Du wahrscheinlich nachher garnicht gebrauchst wirst, sehe ich einfach nicht ein. – Studiere doch weiter. Sieh‘ mal, es wäre doch schrecklich, wenn Du nachher wieder neu anfangen mußt.

Und die Medizin ist doch auch wichtig. Bitte, liebe Lotti, tue es doch. -

Lach nicht, daß ich Dich so zu überreden versuche. Aber ich habe doch immer gesehen, wie froh und be-

friedigt Du in Deinem Beruf warst, und wenn Du nun so plötzlich aus Deiner Arbeit herausgerissen wirst, würde es mir wirklich sehr leid für Dich tun. – Außerdem wäre es auch furchtbar anstrengend für Dich, jeden Tag die ungewohnte Arbeit in der Rüstung und dann auch noch den weiten und beschwerlichen Weg herauf und herunter zu machen. – Ach Lotti, studiere doch weiter, wenigstens so lange, bis Du zur Rüstung herangezogen wirst. Aber vorläufig sind wirklich schon viel zu viele Hilfskräfte da.

Sei nicht böse, Lotti, daß ich Dir dies so schreibe. -

Ich bin nun sehr müde und ich will für heute mit dem Schreiben aufhören. – Gute Nacht, meine liebe Lotti.

Deine Ulla.

Habt Ihr Nachricht von Hansa? – Heute haben Dr. Goebbels und Gauleiter Grohe in Köln gesprochen.