Lotti an Ursula Lindemann, 22. September 1944
22.9.44.
[22.00 am 26.9.44]
Meine liebe Ulla,
heute bekam ich gleich 2 Briefe auf einmal von Dir, vom 11. u. 17/18.9., für die ich Dir herzlich danke. Ich schrieb Dir zwar gerade noch, aber ich muß Dir doch jetzt sofort antworten.
Ich habe mit großem Interesse Deine Erzählung über Deinen neuen Arbeitseinsatz gelesen und kam mir dabei so erbärmlich vor, wie ich es Dir garnicht sagen kann. – Ich sitze also hier in Ruhe und Frieden und kann weiter mein friedliches u. im Augenblick so sinnloses Studium betreiben, brauche noch nicht einmal Notexamen zu machen, während Du schwerste Arbeit machen mußt, den ganzen langen 11-stündigen Arbeitstag vor einem Ungetüm von Maschine stehst und
dabei noch von feindlichen Fliegern beschossen wirst.
Ich habe mir die Sache so durch den Kopf gehen lassen und nun hör mich einmal ruhig an, was ich Dir dabei zu sagen habe.
Von Deiner tapferen Einsatzbereitschaft will ich garnicht reden, sie ist einfach vorbildlich und bewundernswert. Aber sie ist dennoch fehl am Platze. Es war doch an sich nur die Rede davon, (jedenfalls im Rundfunk und allen Zeitungen) daß die Schülerinnen der 7. Klasse in der NSV eingesetzt werden sollten, also eine Arbeit übernehmen, die ihre tatsächlichen Kräfte nicht übersteigt. Ich verstehe nicht, warum man trotzdem hingeht und Euch die schwerste Arbeit zumutet, die es gibt, in der Rüstung, den ganzen
Tag stehend, 11 Stunden lang, eine vollkommen ungewohnte und ungesunde Tätigkeit, die sonst starke, kräftige Männer ausübten und die be[..] es keine 11 Stunden lang!
Nein, Ulla, ich halte das für vollkommen wahnsinnig, das geht zu weit, ich möchte wissen von wem dieser unvernünftige Einsatzbefehl ausgegangen ist. Schließlich bist Du mit 16 Jahren ja kein Schwerarbeiter und kannst das leisten, was jener wahrscheinlich noch nicht mal geschafft hat; 2 Maschinen gleichzeitig zu bedienen. Kinder gehören trotz allem immer noch nicht in diese Rüstungsarbeit hinein, weil von Eurem Entwicklungsalter ein so langes Stehen einfach gesundheitsschädigend und ein dadurch entstehender körperlicher Schaden nicht wieder gut zu machen
ist. Soviel verstehe ich von meinem zukünftigen Arztberuf doch bereits, um Dir dies sagen zu müssen. Es geht doch jetzt nicht darum, daß Ihr jungen Menschen Euch kaput arbeitet, sondern daß jeder das leistet, was er kann. Aber dies geht über Deine Kräfte und muß geändert werden. Was machen denn Deine übrigen Schulkameradinnen? Es würde mich sehr interessieren. Also, liebe Ulla, wenn es nicht schon bereits geschehen ist, dann sorge dafür, daß die Eltern Dir helfen, eine Dir gemässere Arbeit zu verschaffen. Das hälst Du sowieso keine 4 Wochen durch und darf von Euch einfach nicht verlangt werden. Wenn es unbedingt Rüstungsarbeit sein muß, dann eine andere, körperlich leichtere, wobei Du sitzen kannst. Nähen u. dergl., es gibt da doch wirk-
lich noch genug anderes, als ausgerechnet Granaten drehen. Die Eltern haben unbedingt recht, wenn sie nicht damit einverstanden sind. Warum schickt Ihr denn nicht lieber die Helmi weg u. Du würdest die Hausarbeit übernehmen? Aber Helmie würde sich das bestimmt nicht zu trauen. Es ist ja ein Wahnsinn! Entschuldige bitte Ulla, aber ich muß einfach schreiben, wie ich denke, so aufgebracht bin ich über diese Organisation. Schon daß man Euch an den Westwall schickt, es gibt dafür andere Menschen als ausgerechnet Kinder.
Nun sieh das bitte auch ein, das tut Deinem schönen Arbeitswillen keinerlei Abbruch, und sorge sofort dafür, daß man
Dir etwas anderes zuweist. Du bist bestimmt keine Drückebergerin im Gegenteil, was nutzt es denn, wenn Du nach einiger Zeit mit Sicherheit nicht mehr arbeiten kannst. Es wäre doch schade, wenn Du Deine Gesundheit dadurch einbüßt und dann garnicht mehr helfen kannst. – Schreib mir bald, was Du darin getan hast, Ulla.
Wie schön Du Deinen Sonntag verbringst. Die freien Stunden machen einem umso mehr Freude, je weniger man davon hat und je mehr man sie verdient hat. Ist es nicht so? Heute wird Gisela bei Euch gewesen sein. Sie fuhr innerhalb einer ½ Stunde so schnell ab, daß ich Ihr kein Briefchen mehr für Dich mitgeben konnte.
Hört Ihr in Köln eigentlich schon das Schießen von Aachen und haben sich die dauernden Alarme, wie bei uns allmählich etwas gelegt? Wie traurig, daß Dein Hänschen eingegangen ist.
Frl. Priem darf weiter studieren, wie sie mir heute schrieb. Ich nehme an, weil sie ja invalide ist. Ich möchte kein Semester mehr weitermachen. Jetzt nicht mehr. Deine Geschichte hat mir die letzte Überzeugung gegeben, daß wir jetzt woanders nötiger sind. Ich hätte keine Freude und kein ruhiges Gewissen mehr.
Also liebes Ullakind, ich hoffe Du verstehst mich richtig und folgst meinem Rat. Schreib bald, wie es ist. Grüß die Eltern herzlich.