Lotti an Ursula Lindemann, 5. November 1944
Schriesheim, d. 5.11.44.
[an 24.11.]
Meine liebe Ulla,
heute, am Sonntag, kam nach längerer Pause wieder eine ganze Menge Post von Dir, und ich danke Dir für diese Lebenszeichen diesmal ganz besonders. Es sind die Briefe vom 27., 29., 30. u. 1.11. Was Du mir schreibst, hat mich erschüttert und ich stehe fassungslos da. Dazu kam gestern unerwartet ein Bekannter aus Köln nach 3 ½ Reisetagen aus Köln, erschöpft, ein Bild des Jammers, mit einigen wenigen Habseligkeiten bei uns an, um hier seine Zuflucht zu suchen. Seine Schilderungen von dem, was er erlebt hat und dazu die Deinen machen das Bild so trostlos, daß ich Dich von Herzen verstehe, wenn Du bald der Verzweiflung nahe bist. Auch ich bin oft völlig mutlos und muss mich jeden Tag immer wieder von neuem aufraffen u. zusammennehmen. Dabei geht es uns ja noch unvorstellbar gut, aber der Gedanke an
die Zukunft und die Sorge um Hansa u. Euch armen Kölner zermürbt uns sehr und drückt uns fast das Herz zusammen. Daß Du in diesem Höllenleben ausharren mußt, macht mir viel Kummer. Und ich kann und will mir einfach nicht vorstellen, daß Du eines Tages nicht mehr da bist, nicht mehr schreibst, daß es noch und wieder einmal gut gegangen ist. Gott beschütze Dich, Ullakind, und Euch alle.
Der Vater wird hoffentlich bald mit Euch herausgehen. Ob Ihr nun nach Haltern fahrt oder Ihr in Krählingen etwas finden können? Letzteres wäre mir viel, viel lieber. Ich hoffe so sehr, daß Ihr bald aus allem heraus kommt. Auch ich klammere mich noch immer an die letzte Hoffnung, daß wir eines Tages endlich mit neuen Waffen antreten und die Luftherrschaft brechen können. Das ist das Wichtigste, sonst weiß ich nicht, wo wir hinsteuern.
Daß Ihr von Hansel wieder Nachricht bekommen habt, ist doch ein großer Trost. Nun muß ich Dir von Hansa schreiben. Sein letzter Brief vom 10.10. war sehr ernst und bereitete uns auf alles vor. Es wird wahrscheinlich der letzte gewesen sein, den er an uns schreiben konnte. Denn anschließend begann die Landung und der Kampf um die Scheldemündung, an deren südlichen Brückenkopf im Raum nordöstlich Brügge Hansa seinen Gefechtsstand hatte. Am 3. Nov. meldete das OKW, daß die tapfere Besatzung dort der Übermacht des Feindes erlegen sei. – Ulla, was das bedeutet, weißt Du, so gut wie ich. Ich kann den Gedanken nicht zu Ende denken und alles Denken und Grübeln hilft mir nicht zu erfahren, was aus Hansa geworden ist. Auch wir klammern uns an die einzige Hoffnung, daß er den Weg in die Gefangenschaft ging. Aber wann werden wir das genau wissen? Wochen und Monate vergehen, bis wir Gewissheit über ihn haben
werden und mir bangt so sehr vor der letzten. Nun haben wir dieselbe Sorge wie Ihr um Klaus und vielen tausend Menschen geht es ebenso.
Von mir will ich Dir nun schnell auch noch das Nötigste sagen. Ich habe ja so viel Glück in letzter Zeit. Ich werde in ein paar Tagen als Hilfsärztin beim Leiter (Oberstabsarzt Dr. Gottwald) des hiesigen kleinen Krankenhauses in Schriesheim tätig sein. Ich ging selbst zu ihm und da er eine Hilfe braucht, will er mich ins Klinische einarbeiten. Das wird sicher eine sehr produktive Zeit für mich, denn es ist ein richtig nettes kleines Kr.Haus mit einer kleinen Chirurgie, Innerer Abteilung, Röntgenlab. usw. Es liegt ¼ Std. entfernt unten im Tal in der Nähe von klein Ernas [?], wenn Du weißt, wo das ist. – Nun will ich schließen u. morgen noch einen Brief an Deine neue Anschrift nach H. schreiben, falls Du schon dort bist. Noch einmal, Gott beschütze Dich, liebe Ulla, und wir wollen dennoch auf ein glückliches Wiedersehen hoffen! Es küßt Dich herzl. D. Lotti.