Ursula Lindemann an Lotti, 9. Juli 1945
Köln, den 9. Juli 1945
Meine liebe L.
Wieder eine Gelegenheit einen Brief nach Heidelberg wegzubekommen. Die 3. nach der Besetzung. Diesmal fährt ein Bekannter von den Eltern nach Heidelberg, der vielleicht eine Antwort mitbringen kann. Ich warte täglich, daß irgendein Lebenszeichen von Dir kommt und bin in Sorge um Euch alle. Wie mag es Deiner Mutter gehen? Hoffentlich habt Ihr alles gut überstanden und konntet im Häuschen bleiben? Ich hoffe so, daß Ihr alle gesund seid und den Mut habt, wieder neu anzufangen. Ob H. schon aus der Gefangenschaft zurück ist? Ich glaube, das würde Euch am meisten über all das Schwere hinweghelfen.
Wie wir alles überstanden haben, habe ich Dir vor einer Woche in einem ausführlichem Brief geschrieben, aber ich fürchte, er hat Dich nicht erreicht, wie einige vorher. Aber heute bin ich fast sicher, daß der Brief Dich erreicht und so will ich noch einmal alles zusammenfassen - es sind teilweise Notizen aus meinem Kalender:
Am 27. Februar kam ich von Euch mitten in den Krieg nach Köln zurück. Starker Beschuß und am 2. März der schwerste Angriff, den wir alle je erlebt haben. Ich bekam einen richtigen Schock (ich schäme mich noch jetzt deshalb) und deswegen schickten mich die Eltern am 3. März nachts mit Hansel, der wieder an die Front mußte, mit unserem defekten Lastwagen aus Frechen nach Haltern und Telgte. Ich kann nicht beschreiben, wie schwer dieser Abschied war. Ich sollte zu unseren Verwandten nach Telgte, die Eltern glaubten, da sei ich sicherer. Unter Beschuß aus Köln raus. In Bonn über die letzte heile Brücke. Kolonnenweise Andrang, wir mußten lange warten. Bei Schneesturm und Hagel irrten wir den ganzen Tag an der Sieg entlang. Hans und ich saßen hinten auf dem Wagen halbwegs unter einer Plane. Vorne Tante E. und Herr. St., der Fahrer. In der Nacht haben wir Tante E. in Schwerte/Ruhr abgesetzt. Ich hatte Durchfall und Brechreiz. Dann in der Nacht weiter nach Unna. Zusammenstoß mit einem Militärwagen, der dann Hans und mich nach Unna nahm.
Herr St. blieb beim Auto. Von Unna am Spätnachmittag dann einen Zug nach Hamm genommen. Dort 3 Stunden im Bunker gesessen, Angriff. Nachts einen Bummelzug nach Münster. Fürchterliches Wetter. Um Mitternacht in Münster. Dort ca. 6 Stunden auf den Zug nach Telgte gewartet. Es war die 3. Nacht, die wir mit kaum Schlaf unterwegs waren. Wir versuchten auf dem Boden im Bunker zu schlafen. Aber wir konnten nicht schlafen vor Erschöpfung und Hunger. Morgen weiter nach Telgte. Von dort aus noch 8 km zu Fuß zu unseren Verwandten. - Halb tot endlich dort angekommen und von Tante Elly sehr liebevoll aufgenommen worden. Dann haben wir erst einmal geschlafen.
Am Nachmittag mußte Hans weiter nach Braunschweig, wo er sich melden mußte. Der Abschied war schwer. Ich blieb allein zurück. Obwohl meine Verwandten sehr lieb zu mir waren, mußte ich andauernd weinen. Ich kannte sie ja nur wenig.
Köln war inzwischen gefallen und man wußte natürlich nichts, ob sehr gekämpft wurde. Diese
Angst machte mich tertig. Die Angst vor den Angriffen war nicht so schlimm wie diese Ungewissheit - und das war erst der Anfang.
Meine Tante, die Kusinen, 21 und 18 Jahre alt und mein 16 jähriger Vetter waren sehr nett zu mir - vor meinem Onkel hatte ich etwas Angst. Sie versuchten alle, es mir leichter zu machen. Karfreitag erlebte ich noch eine große Freude - Hansel kam für einige Stunden vorbei, er befand sich auf dem Rückzug. Mit Sorge schickten wir ihn wieder in die Ungewissheit.
Dann kam der Anmarsch auf Münster. „2 Tage Trommelfeuer, wir flüchteten in die Heide zu einem einsamen Bauernhof. Wir erlebten einige Gefechte mit. Osterdienstag zogen dann die Amerikaner ein. Dies vollzog sich wie wohl an vielen Stellen in Deutschland auf dem Land, Soldaten stürmten die Häuser, Unordnung, gelegentliches Schießen...
Eine erheiternde Begebenheit muß ich Dir erzählen. Unmittelbar vor dem Zusammenbruch hieß es, am Bahnhof Telgte stehe ein Güterzug mit Lebensmittel zur Freigabe. Wir 4 Jungen zogen sofort mit dem Leiterwagen die 8 km hin in der Hoffnung Reis, Mehl, Zucker und anderes zu ergattern. Es waren noch Waggons, beladen mit Kartons übrig und wir nahmen mit, was auf den Leiterwagen passte. Mühsam zogen wir unseren schwer beladenen Wagen nach Hause, voller Erwartung, was wir Gutes erwischt haben. Und dann die Enttäuschung: Alle Kartons waren voller schwarzer Schuhwichse! Das brauchten die Soldaten nicht mehr... Und wir auch nicht.
Nach der Übernahme war es keineswegs ruhiger. Wir draußen auf dem Land wurden hauptsächlich von den plündernden Russen, die in Scharen durch die Heide zogen, belästigt. Sie kamen aus den umliegenden Lagern. Es war gefährlich sich aus dem Haus zu bewegen. Uns ging es noch recht gut. Da mein Onkel als Übergangsbürgermeister von Telgte von den Amerikanern eingesetzt worden war, bekamen wir eine amerikanische Wache, die bei uns stationiert war. Aber wenn wir zum Bauer für etwas Milch hingingen, konnte es manchmal recht ungemütlich werden. Einige Höfe brannten ab. Diese Russenplage ist sogar jetzt noch nicht vorbei. Aber für uns kam dann doch allmählich wieder ein geregeltes Leben. Meine ältere Kusine, die schon ein Jahr Musik studiert hatte, und ich musizierten zusammen. Und Dr. E. von der Musikschule, der auch bei uns wohnte, gab uns beiden Unterricht. Bei unserem Musizieren kam mir meine Kusine sehr nahe, wir spielten zusammen vierhändig und konnten uns vollständig in die Musik vertiefen, so daß wir alles um uns herum vergaßen. Dies war eine große Hilfe für mich. Denn die Angst und Sorge um zu Hause wurde, je länger ich dort ohne Nachricht war, immer schlimmer. Er wurde schließlich so schlimm, daß, wenn jemand von Köln sprach, ich anfing zu weinen. Diese Ungewissheit war einfach zu schwer.
Und dann, am 16. Juni kam Dodo an - mit seinem alten DKW unseren Feldweg entlang gefahren! - Ich brauche Dir nichts zu sagen...
Und nun bin ich zu Hause, in der Marienburg, in der Rondorferstrasse. Meinen Eltern geht es einigermaßen, sie sehen sehr dünn aus. In der Stadt ist es ja viel mühsamer Lebensmittel zu bekommen als in Telgte. Meine Tante hatte gute Verbindungen zu den Bauern, so daß wir Milch, Eier, manchmal auch Butter und Brot bekamen.
In diesen ersten Märzwochen nach der Besetzung lebten meine Eltern zwischen den Fronten. Rechtsrheinisch waren noch die deutschen Soldaten und auf unserer linksrheinischen Seite waren schon die Amerikaner - und so war ständiger Schusswechsel. Dabei kam unser Herr. B. beim Wasserholen auf der Marienburger Strasse ums Leben - erschossen von den Deutschen...
Die Amerikaner haben im Keller der Parkstrasse alles Wertvolle gestohlen, den Schmuck, die Kameras, das Silber usw. Alles andere haben sie zerstört. Das Schmerzvollste, alle Bilder und Filme von unserer Familie. Auch im Haus unserer Nachbarn, wo wir ja wohnen durften, haben sie furchtbar gehaust. Kissen zerschnitten, Tinte über Sofa und Sessel ausgeschüttet, die spärlichen Lebensmittel aufgeschnitten und zum Fenster rausgeschmissen. Dann haben sie die Eltern vor die Tür gesetzt. Sie mußten mit dem Leiterwagen, auf dem sie sie nur das Nötigste packen durften, auf Wohnungssuche.
So traf meine Freundin G. Sch. sie und nahm sie mit zu ihren Eltern in die Rondorferstrasse. Und dort hausen wir unter dem Dach und fühlen uns trotz allem sehr wohl. Unser Hansel ist in amerikanischer Gefangenschaft. Erst war er in einem Gefangenenlager in Rheinberg. Da ist er ausgerissen und hat sich auf abenteuerliche Weise zu Fuß nach Köln geschmuggelt, um den Eltern von sich und mir zu berichten. Dann hat er sich aber wieder gestellt und ist in das schlimme Lager Sinzig gekommen. Und nun ist er in Frankreich und muß bei den Aufräumungsarbeiten helfen. Von Klaus keine Nachricht. Wir haben kaum mehr Hoffnung.
Hast Du noch meine Briefe von Anfang März aus Telgte bekommen? Ach L., was ich alles erlebt habe ist so viel. Manchmal meine ich, ich könnte das gar nicht sein, die dies alles erlebt hat. Jetzt in der Erinnerung kommt mir alles unfassbar vor. Gut, daß man die Zukunft nie vorher sehen kann.
Aber wir dürfen weiß Gott nicht klagen, wir haben dolles Glück gehabt.
Alles, was jetzt an den Tag kommt, was wir Deutschen verbrochen haben ist so unsäglich entsetzlich und nicht vorstellbar, daß man es nicht glauben will - aber es ist wahr und das kann man nie wieder gutmachen. Das wird uns immer belasten und man schämt sich Deutscher zu sein. -
Und dann flüchte ich mich in die Musik. Hier ist auch ein Klavier, auf dem ich üben darf. Ich übe jetzt ein Intermezzo von Brahms op. 117. Es ist wunder-wunderschön, ganz innig und zart.
Diese Melodie ist wie eine liebevolle Hand, die einen nimmt und durch alle Wirrnisse führt. Wenn ich dieses Intermezzo spiele ist in mir Ruhe und alles gut.
Nun hoffe ich, daß dieser Brief Dich erreicht und auch ich bald von Dir höre. Ich wünsche Euch allen von Herzen, daß es Euch gut geht und H. bei Euch ist.
Deine Ursel