Marga Ortmann an August Broil, 1. Juli 1943

48a Köln, den 1. Juli 1943.

Mein lieber August!

Ich weiß nicht ob mein Brief von vorgestern Dich erreicht hat; er hat sicher lange gebraucht, bis er bei Dir ist, denn alle Ordnung – die innere und äußere – scheint umgeworfen zu sein. Unser liebes Köln, in dem mir jeder Winkel fast vertraut war, ist eine tote Stadt geworden. Im Stadtkern um den Dom herum kann man die Häuser an den Fingern abzählen, die noch verschont geblieben sind. Sonst nur ausgebrannte Fassaden und rauchende Trümmerhaufen. Selbst der Dom ist diesmal nicht verschont geblieben: der Dachstuhl des nördlichen Seitenquerschiffes ist abgebrannt und die Front ist durch Sprengstücke stark beschädigt worden. Es griff mir ans Herz, als ich die kahlen Eisenträger des Dachstuhles in den Himmel ragen sah. Ich kann Dir nicht sagen welch grauenhafte Bilder ich gesehen habe bei der Bergung von Verletzten; die Züge der Obdachlosen mit ihrer letzten Habe und die von Schmerz und Leid zerwühlten Gesichter der Menschen auf den Straßen. Am ärmsten sind wohl jene, die in dem Übermaß des Schmerzes abgestumpft sind und

apatisch allen Dingen ihren Lauf lassen. Ach, wie gerne möchte man all den Menschen die Last tragen helfen, die sie zu Boden drückt. Mein lieber August, kannst Du verstehen, daß ich heute dem Herrgott gedankt habe, daß Er auch von uns das Opfer gefordert hat?

Es kostet freilich einen Kampf mit dem allzu Menschlichen in uns; das muß ja so sein, denn wenn es nicht schmerzte wäre es ja kein Opfer. Als ich die lange Nacht von Dienstag auf Mittwoch im Bett Deiner Schwester wach lag – es war wohl die erste schlaflose Nacht meines Lebens – habe ich gespürt wie sich das Menschliche aufgebäumt hat gegen das Ergebensein, zu dem sich der Geist bereits durchgerungen hat. Die Phantasie ließ mich nicht zur Ruhe kommen: ich sah mich über die eingestürzte Treppe über brennende Balken durch die Flammen in mein Zimmer eilen und noch einen Arm voll Bücher vom Regal fassen. Ich habe mit Aufwand meines ganzen Willens dagegen angekämpft, aber das Bild kam immer wieder. Wie sehr hängt doch das arme Menschenherz noch an den Dingen, das habe ich daran so recht erkannt. Habe ich nun nicht die beste Gelegenheit mich ganz davon freizumachen? Es ist ungeheuer schwer, aber vielleicht läßt es sich doch erreichen.

Eine Niederlage habe ich allerdings gestern schon erlitten. Als Cordula mir für Finni und mich eine Wäschegarnitur gab, habe ich die beste davon selbst behalten. Du sollst darum wissen, denn das war doch recht klein und erbärmlich. Aber ich will mich dadurch nicht mutlos machen lassen. – Mein Liebster, wenn Du sehen könntest wie gut alle Menschen zu uns sind! Bei Deinen Eltern darf ich ganz zu Hause sein, Deine Mutter könnte zu ihrem wirklichen Kind nicht besser sein. Mit Deinem Vater habe ich am Abend nach der furchtbaren Nacht einen Ganz durch die friedliche Stille der Marienburg gemacht, das hat so gut getan. Deine Mutter deckte mich vor dem Schlafengehen mit soviel Liebe zu, aber an Schlaf war nicht zu denken. Da habe ich lange betend vor dem Bett gekniet, die Gedanken formten sich mühelos zum Wort des Gebetes, indem sich alles löste, was mich innerlich noch fest hielt. August, ob es uns wenn wir einmal ganz zusammen sein dürfen möglich sein wird gemeinsam so zu beten, wie ich es an diesem Abend getan habe; daß unsere Seelen so zusammenhören, daß beide im gleichen Wort, das aus tiefster Seele gesprochen wird, alles vor den Herrn tragen? Das scheint mir die höchste Stufe zu sein, die menschliche Gemeinsamkeit

erreichen kann. –

Gestern morgen war ich früh mit Mutter in Eurer Kirche und nach dem Kaffee habe ich mich auf den Weg zu den Eltern in der Hermann Beckerstr. gemacht, fast 2 Stunden, dazu in Schuhen, die mir zu klein sind. Den ganzen Tag war ich auf den Beinen und da in der Stadt an Lebensmittel nichts mehr aufzutreiben ist, habe ich es in Braunsfeld versucht. Bei Lore habe ich mittags gegessen und sie hat mir noch eine Anzahl Kleider und 1 Pr. Schuhe mitgegeben. Es ist furchtbar schwer, wenn man auf die Hilfe anderer angewiesen ist, aber vielleicht auch eine Möglichkeit sich zu demütigen. Diese Nacht habe ich bei Cordula geschlafen, das werde ich nun öfter tun weil ich da nahe bei den Eltern bin, die mich jetzt besonders nötig haben. Im Augenblick bin ich im Büro, das noch verschont geblieben ist. Gleich werde ich zu Deinen Eltern zum Essen gehen.

Du, mein August, an der Unausgeglichenheit des Briefes merkst Du wohl, daß noch nicht alles wieder im Gleichgewicht ist. Es ist schwer als junger Mensch so stark zu sein, daß sich die Eltern daran Kraft holen können und immer wieder gut zuzusprechen, ohne selbst eine Hilfe zu haben. Aber was rede ich da – kommt mir

nicht jeden Morgen beim hl. Opfer soviel Gnade und Kraft, daß ich sie förmlich spüren kann? Wie dankbar müssen wir sein, all die Dinge recht sehen zu können und es ist daher heilige Verpflichtung auch denen zu helfen, die allein nicht damit fertig werden können. Wenn Du doch jetzt bei mir sein könntest! Die Tage unseres Gelöbnisses werfen noch ihr Licht in diese Stunden hinein, wir wollen dem Herrn von Herzen danken, daß wir alles so erleben durften. Ich möchte es gerne wissen wie Du mein Wort auf Deinen langen Brief hin aufgenommen hast. Aber jetzt wird es wohl lange dauern bis ein Brief von Dir durchkommt. In Bayental wird Post ausgetragen, versuche doch bitte mal nach dort zu schreiben.

Bis heute lag ein grauer Dunst von Qualm und Staub über der Stadt. Jetzt kommt zum ersten Mal die Sonne durch und der Himmel ist wieder blau. Die Vögel singen ihr Lied wie alle Tage und alles grünt so schön: die Natur atmet ihren ruhigen Rhythmus in der vom Schöpfer gesetzten Ordnung weiter, trotz allem noch so schrecklichen Geschehen. Sollten wir Menschen nicht auch dazu fähig sein? In allem Dunkel wollen wir uns ein waches Auge erhalten für die kleinen und großen Freuden, die uns unabhängig von allen

äußeren Geschehen noch geschenkt werden, damit durch ihr Licht das Dunkel seine Schrecken verliert. Für mich ist solch ein Licht das Erleben meiner Liebe zu Dir, mein lieber August, das mich so recht von Herzen froh sein läßt. Sei Du es mit mir, trotz allem; denn ich kann ja nur dann glücklich sein wenn Du es bist.

Laß Dich von Herzen grüßen, mein lieber August, und denke an

Deine Marga.