Zerstörung einer Familie: Der Fall Eickels
Bei der Sichtung einer Akte zu Jugendvereinen in der NS-Zeit im Bischöflichen Diözesanarchiv Aachen (Gvs J 14, I) gab es einen Fall, der in besonderer Weise ins Auge fiel: Nicht nur, weil er mit 60 Seiten ungewöhnlich ausführlich dokumentiert war, sondern auch, weil der Fall besonders perfide war. Es ging um einen Schüler aus Wegberg-Beeck am Niederrhein, Josef Eickels, der als Mitglied des Katholischen Jungmännervereins wegen religiöser Gründe in Konflikt mit der HJ und seiner Schule geriet und dadurch in so große Schwierigkeiten kam, dass er schließlich als Folge von Diffamierungen, Schikane und Gewalt von seiner Schule, dem Gymnasium Erkelenz, verwiesen wurde.
Um Genaueres über die Hintergründe dieses detailliert überlieferten Streits zu erfahren, wurde 2013 eine Recherche nach einem der treibenden Kräfte für den Schulverweis, dem ehemaligen Direktor des Gymnasiums Dr. Keus, durchgeführt. Die Suche ergab zwar keine weiteren Informationen zu Keus, führte jedoch zu einer Zeitzeugin für den Vorfall: Agnes Eickels, die Witwe von Josef Eickels. Sie hatte in den 1980er Jahren Schülern über die Vorgänge berichtet. Agnes Eickels war in der Zwischenzeit verstorben, es ließ sich jedoch ein Kontakt zu ihrer Nichte herstellen, und diese Nichte hatte aus dem Nachlass von Agnes und Josef Eickels sämtliche Unterlagen aufbewahrt, die seinerzeit wegen des Schulverweises entstanden waren: Berichte, Auszüge aus Vernehmungsakten, Stellungnahmen von Eickels Rechtsanwalt usw. Zudem gab es noch zahlreiche Fotos, Briefe und zwei Tagebücher.
Hinzu kam ein umfangreicher Schriftverkehr von Josefs Vater, Mathias Eickels, und damit tat sich noch einmal ein ganz neuer Fall auf. Nun zeigte sich nämlich, dass nicht allein Josef Eickels Opfer von Repressalien des NS-Regimes war, sondern in starkem Maße auch sein Vater. Wie sein Sohn war Mathias Eickels wegen seines Beharrens auf dem katholischen Glauben und seiner Verweigerungshaltung gegenüber den NS-Organisationen in Konflikt mit den NS-Stellen geraten und war deswegen vielfältigen Drangsalierungen ausgesetzt. Sie führten zunächst zu verschiedenen Strafversetzungen und schließlich zu einer Einweisung ins KZ-Dachau, wo er einen frühen Tod fand.
Die Unterlagen zu den beiden Fällen waren nach dem Krieg von Josef Eickels zusammengestellt und ergänzt worden, um Beweismaterial zur Anerkennung als „Verfolgter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ zu haben. Nach seinem Tod hatte die Familie die Aktenordner dann aufbewahrt – für die Historikerzunft ein glücklicher und seltener Umstand, da nach wie vor viele interessante Dokumente bei Wohnungsauflösungen einfach weggeworfen werden.
Damit hat sich ein einzigartiges Material erhalten, welches einen Einblick in eine Verfolgungsgeschichte im dörflich-kleinstädtischen Milieu am katholisch geprägten Niederrhein erlaubt. Es wird bis ins Detail nachvollziehbar, auf welche Weise und aus welchem Grund Menschen ausgegrenzt, schikaniert und mundtot gemacht wurden. Dabei werden einzelne Akteure sichtbar und die Verbindungen, die zwischen Stellen von Partei und Staat bestanden. So wird deutlich, wie die Ideologie der Partei immer tiefer in die Gesellschaft eindringen konnte und wie es über die staatlichen Stellen möglich war, bürgerliche Existenzen zu zerstören.
Zugleich sind die beiden Fälle Josef und Mathias Eickels ein Beleg dafür, dass der Widerstandsbegriff in Bezug auf die NS-Zeit weit ausgelegt werden muss. Josef und Mathias Eickels waren keine Widerstandskämpfer. Doch sie waren tiefgläubige Katholiken, die auf ihrem Glauben beharrten und die sich kritisch mit der Religionsfeindlichkeit des NS-Regimes auseinandersetzen. Daraus entwickelten sie eine Verweigerungshaltung gegenüber den NS-Organisationen und im weiteren Sinne auch gegenüber allen nationalsozialistisch beeinflussten offiziellen Stellen. Da sie daraus keinen Hehl machten und den Mut besaßen, ihre Meinung auch offen zu vertreten, wurde ihr Verhalten im Kontext der Volksgemeinschaftsideologie, die andere Meinungen nicht zuließ, als Widerstand gewertet und entsprechend geahndet – mit Folgen, die sie sicher selbst nicht vorhersahen, aus denen jedoch kein Entkommen war, als sie erst einmal in der Verfolgungsmaschinerie drin waren.