Marga Ortmann an August Broil, 24. Juli 1943

55. Samstag, den 24. Juli 1943.

Du, mein lieber August!

„Es sind so viele helle Lichter in den dunklen Kammern des Jetzt“ so hast Du mir einmal geschrieben und dieses Wort kommt mir immer wieder in den Sinn. Der vorige Sonntag hat in meiner Seele alle Lichter neu entzündet, die sich flackernd gegen das Verlöschen im Sturm wehrten und nun brennen sie in einer wundersamen Ruhe und Klarheit, heller und leuchtender noch als zuvor. Wie gut meint es der Vater im Himmel doch mit uns, er schickt uns immer im rechten Augenblick das was wir brauchen, so auch die Freude des Zusammenseins am Sonntag. Nun ist schon bald eine Woche seitdem vergangen, wie im Flug und angefüllt bis zum Rande mit Arbeit und Mühe daheim und im Beruf. In alledem fanden die Gedanken immer wieder zurück zu den gemeinsamen Stunden. Es ist als habe mich die Vielfalt des Geschehens der letzten Wochen noch empfindsamer gemacht für alles Erleben, für das Dunkle und für das Helle, für das Frohe wie für das Leidvolle. Tief gräbt sich das Leid und die Sorge der Menschen, deren ernste Gesichter mir heute eine deutlichere Sprache sprechen von dem was in ihnen vor sich geht, in meine Seele ein.

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Auf der anderen Seite vermag mir der abendliche Weg durch den Wald, die Pracht der sommerlichen Gärten, das Lied eines Vogels und in der Frühe des Tages das Erleben des hl. Opfers so viel stille, innere Freude zu schenken, daß ich mich oft frage wie das alles nur Raum in mir finden kann.

Heute morgen war ich zum ersten Mal seit dem Angriff wieder im Dom. Trotz der Wunden, die der Krieg ihm geschlagen hat, war es für mich ein erhebendes Erleben mal wieder den Blick von den Säulen und Gewölben emporführen zu lassen in die Höhe, wo die Linien ineinandergreifen. Im südlichen Turmraum wurde das Opfer gefeiert und dabei wurde mir so recht bewußt, daß der Dom für mich doch das Gotteshaus ist. Heute mittag hielt es mich nicht lange im Büro, so bin ich schon früh herausgefahren und nach dem Weg durch das sommerliche Feld, in dem es im Sonnenschein schwirrte und surrte, sitze ich jetzt ganz still in unserer Küche, um wieder zu Dir zu kommen. Vor mir auf dem Tisch steht eine schlanke Tonvase mit Feuerlilien und der Blick geht durch das offene Fenster weit weg über die Heide und den Wald einem fahrenden Zug nach, der seine weißen Rauchwolken in den blauen Himmel stößt: Viele Stunden braucht so ein Zug für die Fahrt von Köln nach Bremen,

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dieser Brief wird noch viel länger brauchen bis er bei Dir ist. Ich wünschte ich könnte Dir immer so schreiben, daß jeder Brief wie ein Spiegel meines Innern ist, den Du hervorholen kannst um immer wieder hineinzuschauen. Vor Dir hat noch niemand den Spiegel in der Hand gehabt und außer Dir soll keiner hineinsehen dürfen, für Dich aber soll er ganz klar sein und wahr. Du, es ist doch etwas Schönes, daß wir nun so ganz offen zueinander sein können, daß wir jetzt beide das Verlangen in uns tragen wirklich alles dem anderen zu offenbaren; nicht nur die Lichtseiten unseres Wesen, sondern auch die Schattenseiten. Es hat mir so gut getan, als Du von der Bestandsaufnahme des Herzens sprachst und ich habe es immer gespürt, daß es Dir um die Ehrlichkeit bis ins letzte ging. Du hättest das ja nie fertig gebracht, wenn nicht die Liebe und das Vertrauen Dich dazu getrieben hätten.

Weißt Du, darum ist es das Schönste, was Du mir schenken kannst und mag Dir das Gesagte auch manchmal real und nüchtern erscheinen, genügt es Dir nicht zu wissen, daß sie in meinem Herzen immer die rechte Saite zum Klingen bringt! Ich habe bisher nie nach zärtlicheren Worten in Deinen Briefen verlangt; sie leuchten mir köstlich auch dann entgegen, wenn der Verstand die Führung übernommen hat.

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Sollte ich sie aber wirklich einmal entbehren oder vergebens suchen, dann will ich es Dir offen sagen damit sich das Herz gegenüber dem Verstand behaupten kann. Bist Du damit dann zufrieden?

Es ist schwer, wenn ich jetzt in der Freizeit mal eine Stunde für mich ergattern will, nach dem Essen ließ man mich gestern nicht mehr los, dann wurde es Zeit zur Komplet und es kann ich den Brief jetzt erst, am Sonntagmittag, beenden. Es ist heute der 25. Juli, Dein Geburtstag, da galt Dir heute morgen ein besonderes Gedenken. Das erste Jahr nach den drei vollendeten Jahrzehnten Deines Lebens hat Deinen Weg dem meinen zugewandt. Wir wollen hoffen und beten, daß es der Beginn zur glückhaften Erfüllung Deines Lebens sei, dem wir im neuen Lebensjahr bewußt und froh gemeinsam entgegenschreiten. – Eben habe ich wieder auf dem Baumstamm gesessen, wo wir vorigen Sonntag beieinandersaßen. Da habe ich die Verse, die Du mir geschenkt hast, wieder so recht auf mich wirken lassen: Dein ganzes Wesen schaute mir daraus entgegen; das Bild war mir kein fremdes mehr, sondern das mir so liebe, längst vertraute. Die drei Gedichte erzählen mir das gleiche, was Dein langer Brief mir gesagt hat: vom Kampf der beiden Kräfte in Dir; wie das stille Licht, im Anfang von der Macht

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des Dunkels schier erdrückt nur aus der Ferne glimmend, sich in Dir seinen Weg gebahnt hat. Erst zagend nur die Übermacht des Dunkels sehend, - gerade weil im ersten Gedicht die Macht des Dunkels so spürbar wird ist der Titel gerechtfertigt – appeliert es in der zweiten Strophe des zweiten an den letzten Funken des Guten, den der Schöpfer, die Fülle des Guten, in jeden Menschen hineingesenkt hat. Der Glaube daran läßt das stille Licht an dem Funken neu entfachen und dieses wird endlich so stark, daß ihm der Wille und die Sehnsucht entsteigt: endlich rein und endlich frei! Empfangend umgewandelt, wird seine eigene Kraft so groß, daß es davon verschenken kann und verlangend gibt. Der Ausblick auf das letzte Ziel, in das alles Licht und Dunkel mündet, läßt es sieghaft auch die neuen Widerstände – die große Not – überwinden. –

Die Spannung der ersten beiden Gedichte sind in der Ruhe und Sammlung des dritten gelöst. Das kommt in dem ruhigen Gleichklang und dem Fluß des Rhythmus gut zum Ausdruck. Du mein lieber August, Du hast mir mit diesen Versen eine ganz große Freude gemacht. Sie haben sich meinem Gedächtnis eingeprägt, so konnte ich sie mir in Gedanken immer wiederholen. Das Wort von Gertrud v. le Fort: „Dichtung ist nicht nur Ausdruck der Persönlichkeit, sondern Hingabe

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der Persönlichkeit“ gilt nicht nur für die großen Werke der Dichtung, sondern auch für den kleinsten Versuch, so wie wir ihn gewagt haben. Du bist der einzige Mensch, der das Verlange zur Hingabe in mir geweckt hat und darum ist es mir wohl auch leicht in Versen zu Dir zu sprechen. Meine Gedanken formen sich manchmal mitten im Getriebe des Tages ganz unwillkürlich zu Versen. Dann sind sie entweder Gebet oder ein Gespräch mit Dir. In den „verdichteten Gedanken“ läßt sich so manches sagen, was man anders nie zum Ausdruck bringen kann. Hättest Du je damals an der Universität so tief in mich hineinschauen können, ohne daß Dir meine Verse den Schleier gelüftet haben?

Daß Du mich darin verstanden hast und nun sogar in der gleichen Sprache zu antworten vermagst, macht mich so froh und ist wieder eine Bestätigung für die Kraft Deines Herzens; denn nur aus ihr kann das Verständnis wachsen und Eigenes geformt werden. Hier kann der Verstand allein nichts fertig bringen, sondern nur dienende Hilfe sein.

Liebster, wie ich hier so sitze und schreibe verrinnen die Stunden im Nu. Was wirst Du wohl heute gemacht haben an dem herrlichen Sonnentag? Ach wir müßten viele Stunden gemeinsam die Schönheiten des Sommers erleben dürfen,

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miteinander auf der Wiese liegen und träumend in die ziehenden Wolken sehen. Vielleicht hält der Vater im Himmel diese Freuden noch für uns bereit; wenn es aber nicht diese Freuden sind, werden es andere sein: wie Er es schickt ist es gut für uns, wir müssen es nur recht hinnehmen dann wird uns jeder Weg zum Glück führen.

Wie groß ist doch das Sehnen des Menschenherzen nach Glück das können wir an uns selbst und den Menschen um uns täglich erfahren, gerade heute. Jeder sucht es mit anderen Mitteln zu erlangen. Die Stunden des Beieinanderseins vorigen Sonntag lassen mich jetzt noch so recht froh und glücklich sein und die täglichen Entbehrungen, durch das Kriegsgeschehen bedingt, vermögen meine Freude nicht im geringsten zu beeinflussen. Das Ja, das ich zu dem Ereignis der einen Nacht gesprochen habe, wird täglich neu in vielen kleinen Dingen gefordert und es da immer in der gleichen Bereitschaft zu sagen ist manchmal schwer. Da ist die stille, innere Freude die beste Kraft. Auch im Zusammenleben mit der Familie wirkt sich das aus; was früher Anlaß zu Reibereien gewesen wäre, ist nun rasch durch ein frohes, gutes Wort ausgeglichen. Du, wir haben allen Grund von Herzen froh und dankbar

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zu sein. Ich bin es vor allem deshalb, weil ich Dich am Sonntag so froh gesehen habe. Wir wollen miteinander beten: Herr, erhalte in uns Deine Freude.

Laß mich Dir noch einmal danken für die Hymnen. Daß Du gerade das Buch gewählt hast, was mir eins der liebsten war! Wir müßten es einmal miteinander lesen und betrachten, um diese tiefen Gedanken in der wunderbaren Sprache uns möglichst reich zu erschließen.

Ach, so vieles läßt sich noch tun und so manche Freude harret unser, wenn wir einmal unser Leben in letzter Gemeinsamkeit führen dürfen.

Die Post klappt nun garnicht mehr in Köln. Dein Brief, von dem Du mir Sonntag sprachst, ist immer noch nicht angekommen. Aber Du wirst sicher diese Woche nach hier geschrieben haben, das wird besser gehen.

Mein lieber August, alles Liebe und Gute möchte ich Dir tun, Du weißt es ja. Nimm meinen herzlich frohen Gruß

Deine Marga.