Marga Ortmann an August Broil, 15. November 1943
Köln, Montag den 15.11.
Mein lieber August,
zu Beginn der neuen Woche, in der Frühe des Tages will ich zu Dir kommen, um Dir ein wenig zusagen von all dem, was ich zu Dir tragen möchte.
In den letzten Tagen war eine seltsame Unruhe in mir, ich habe mir Sorge um Dich gemacht, ohne recht zu wissen warum. Ich hatte das Empfinden, als ständest Du in irgend einer Gefahr, in einer Traurigkeit, von der Du nicht so leicht freikommen könntest. Mit wachsender Ungedult habe ich auf einen Brief von Dir gewartet, denn aus Deinen Briefen wird mir immer die Verfassung Deiner Seele klar, ganz gleich was Du geschrieben haben magst. Ich schäme mich jetzt eigentlich etwas wegen meiner Ungeduld und der Ängstlichkeit, der ich in mir Raum gegeben habe, die ich doch sonst garnicht kenne. Du kannst das sicher auch nicht verstehen, wie das so sein konnte; aber Du sollst immer wissen wie es in mir aussieht, darum muß ich es Dir sagen.
Wir Menschen glauben uns selbst zu kennen, muten uns zuweilen sogar zu unser Wesen irgendwie zu analysieren, und dennoch können uns die Gefühle des
eigenen Herzens ungeheure Überraschungen bereiten, die uns lehren, daß wir uns selbst bis in die letzten Tiefen garnicht ergründen können.
Heute morgen bekam ich Deinen Brief von Donnerstag, ich hatte ihn gestern abend im Dunkeln nicht gefunden. Du schreibst mir von dem Auf und Ab in Deinem Leben, von dem Wechselspiel des inneren Erfülltseins mit einer zeitweiligen Öde und Leere. Wir haben uns beide Gedanken darüber gemacht, wie sich dieses Auf und Ab auf das Gebet auswirkt. – Wenn dieses Wellenschlagen der Seele Einfluß auf die höchste Möglichkeit des Menschlichen, die Verbindung zu Gott hat, so auch auf alle anderen Stufen im Bereicht des Menschlichen, auch auf die Empfindung und Äußerung der nach der Verbindung zu Gott heiligsten Beziehung des Menschenlebens, der Beziehung zweier Menschen in der Liebe.
Der Unterschied in der Empfindung, zeitweise alles andere mit starker Gewalt übertönend, dann wieder sich durch die Fülle äußeren Geschehens mühsam den Weg bahnend, - macht sich auch in den Briefen bemerkbar. Oft, wenn ich einen Brief von Dir bekomme, schlägt es mir daraus wie eine warme Woge entgegen.
Es ist alles mit solcher Herzlichkeit und Innigkeit gesagt, daß ich daraus erahnen kann, wie sehr Dein Fühlen und Sehnen dahinterstehen muß, wie stark es im Augenblick des Schreibens in Dir lebendig war.
Ein andermal dagegen hat der Verstand die Herrschaft übernommen, er hat ein Problem aufgegriffen und sucht nach Klärung, oder setzt sich mit dem Erleben des Tages auseinander. Ich freue mich dann so sehr darüber, daß Du auch mit diesen Dingen zu mir kommst, genau so wie ich mit den meinigen zu Dir, denn es wird darin der Wille kund, alle Bezirke des Persönlichen in das Gemeinsame hineinzugeben.
Wenn Du auch zuweilen glaubst, solche Briefe seien zu nüchtern und sachlich, an irgend einer Stelle kommt doch immer das Herz zu seinem Recht und wenn ich solch eine Stelle entdeckt habe, bin ich ganz besonders froh und rufe sie mir immer wieder ins Gedächtnis zurück, wie eine Kostbarkeit. Und glaube mir, daß ich es auch spüren kann, wenn Du Dich um das rechte Wort mühen mußtest und daß ich Dir für dieses Bemühen von Herzen dankbar bin.
Es mag sein – obgleich ich es mir jetzt kaum vorstellen
kann, da das Empfinden der Liebe zu Dir und mein Sehnen zu Dir hin so stark ist, - daß auch in der Beziehung zweier Menschen, die so zueinander stehen wir wir, einmal eine Zeit kommen kann, da die Glut zu erkalten droht oder nicht mehr so fühlbar ist wie sonst. Es kommt mir jetzt seltsam vor, diese Möglichkeit zu erwägen, aber es drängte sich mir beim Lesen Deines Briefes unwillkürlich auf. Dann, in einer Stunde, da wir die beglückende Wärme des Herzens vermissen, würde sich für unsere menschliche Gemeinsamkeit die gleiche Aufgabe ergeben, die Du in der Beziehung zu Gott in Deinem Brief herausgestellt hast: die armen, schwachen, leeren Stunden zu bezwingen lernen und daraus etwas Wertvolles, Gottwohlgefälliges zu machen. Die Liebe zueinander, die ganz fest und tief in unseren Herzen verankert ist und der unbedingte Wille zu einer guten Gemeinsamkeit werden auch diese Stunden zu erfüllen wissen.
So oft versuchen meine Gedanken jetzt voranzutasten in das neue Land, das vor uns liegt, dessen Schwelle zu betreten wir uns anschicken. Sieh‘, und wenn ich dabei auch einmal solch ernste Erwägungen anstelle wie eben, die Freude und das Glück sind doch die tragenden Kräfte,
die alles andere übertönen.
Schade, daß das mit Deinem Urlaub nicht so klappen will, ich hatte es mir so schön vorgestellt. Aber es ginge uns wirklich zu gut, wenn alles so käme wie wir es uns wünschen. Wie dankbar müssen wir sein, daß wir noch so oft zusammen sein konnten. Da mußte ich heute morgen dran denken, als Johannes Höller Abschied nahm. Muß das schwer sein, wenn die Aussicht auf ein Wiedersehen vor einem Jahr nicht besteht und die Ungewißheit der Front das Warten noch erschwert. Überhaupt glaube ich, daß die Trennung von Mann + Frau, die im Geschehen der Ehe die innigste Vermählung erfahren haben, noch viel schwerer zu ertragen ist, als die Trennung von Braut und Bräutigam in der Brautzeit. –
August, die Eltern haben gestern Bedenken geäußert gegen unseren Plan die standesamtliche Hochzeit jetzt zu halten und die eigentliche erst später. Wer gäbe uns die Garantie dafür, wenn das eine vollzogen sei, daß wir zu dem anderen so bald Gelegenheit hätten? Alles was sie vorbrachten, war von Liebe und Sorge für uns beide getragen und ich habe daran so recht gespürt, wie sehr Vater + Mutter Dich ins Herz geschlossen haben. Ich habe nach der Unter-
redung mit den Eltern nochmal ernstlich über alle gegebenen Möglichkeiten nachgedacht und meine, wir sollten doch bei unseren Plänen bleiben. Die Eltern, so gut sie es meine, können doch nur von den äußeren Gegebenheiten ausgehen; um die inneren und letztlich entscheidenden wissen wir beide doch nur ganz allein. Die einzige Lücke in unserem Plan ist vielleicht die, daß wir uns noch keinen festen Termin zum endgültigen Vereintsein überlegt haben, oder ihn schlechthin von der uns wichtig scheindenden äußeren Möglichkeit abhängig gemacht haben (die Fertigstellung unserer Wohnung, wofür die Aussichten leider nicht besonders gut sind). Die Eltern sprachen von der Möglichkeit, daß Du plötzlich zur Front abgestellt würdest und daß wir uns dann Vorwürfe machen müßten so gehandelt zu haben. Wir waren uns ja beide klar darüber, daß wor die Dinge nur so planen konnten, weil wir einstweilen noch mit einem öfteren Zusammensein rechnen können. Wenn das in Frage gestellt wäre – das kannst Du von da aus besser übersehen, wie die Situation liegt – müßten wir unsere Pläne vielleicht doch noch ein wenig ändern. Schreibe mir bitte einmal darüber, wie
Du über die Möglichkeiten denkst, soweit sie von der Urlaubserteilung, Deinem Bleiben in Bremen oder einer evtl. Versetzung abhängig sind.
Grundsätzlich sind wir ja überein gekommen, daß die Entwicklung unserer Gemeinsamkeit so vorangeschritten ist, daß es uns dazu drängt, Dich und auch mich, uns auf den letzten entscheidenden Schritt zum völligen Einssein zu bereiten. Die Geschehnisse des Krieges, die wir so unmittelbar erlebt haben, haben uns gelehrt, daß wir uns dazu von allen nicht notwendigen äußeren Dingen freimachen müssen. Wenn uns also die allernotwendigste äußere Grundlage gegeben ist, - die allerdings erforderlich ist, um eine Gefährdung der wesentlichen, innerren Werte von daher zu vermeiden – wollen wir im Vertrauen, darin den Willen des Herrn nach besten Kräften vollzogen zu haben, den so entscheidenden Schritt wagen. Wir wissen uns eins in dieser Einstellung und werden aus der gleichen Haltung heraus, im Bewußtsein unserer Verantwortung, in der rechten Weise und zur rechten Zeit zu handeln wissen.
Noch eine praktische Erwägung dazu. Wenn die Fertigstellung unserer Wohnung allzu lange auf sich warten
läßt, könnten wir uns vorläufig in der Wohnung der Eltern ein alleinliegendes Zimmer einrichten. Über all diese Möglichkeiten müßten wir noch einmal sprechen können. Vielleicht ist es möglich, daß Du, wenn auch noch keinen Heiratsurlaub, so doch wenigstens nochmal Kurzurlaub bekommst.
Nun muß ich Dir aber noch etwas recht Schönes und Erfreuliches erzählen. Ich bekam Freitag von Frau Raskop die Nachricht, daß sie in Köln sei und wir uns einmal treffen müßten. Samstagmittag habe ich dann im Hause ihrer Eltern ein paar feine Stunden mit ihr verlebt. Wie gerne habe ich zugehört, wie sie vom Glück einer wirklich feinen, aus dem rechten Geist geformten Familie erzählte. Sie hatte mir einen Koffer mitgebracht mit einigen Sachen die „ich gut gebrauchen könne und sie nicht entbehre“. Es war gut, daß ich den Koffer ungeöffnet mitnehmen mußte, ich hätte es sonst nicht fertig gebracht, das alles anzunehmen, denn es ist schon ein kleiner Reichtum den sie mir damit geschenkt hat: 6 neue Leinenbettücher, 6 Handtücher, 6 Küchentücher und 2 Nachthemden.
Bei einem früheren Zusammensein hatte Herr Raskop mal geäußert, wenn ich einmal an die Gründung
eines neuen Hausstandes im Kriege dächte – ich dachte damals nicht im entferntesten an die Möglichkeit – dann sei Fam. Raskop hoffentlich auch noch da, um mithelfen zu können. Das haben sie nun in einer Weise wahrgemacht, die mehr als großmütig ist.
Gleichzeitig brachte sie mir ein Buch zurück, das ich ihr vor 1 ½ Jahren geliehen hatte und mir dadurch als einzigstes geblieben ist: Guardini, Vom lebendigen Gott. Ich habe es wie neu geschenkt angenommen.
Sonntag war ein recht stiller, schöner Tag im Kreise der Familie. Morgens fiel der erste Schnee. Das weiße Kleid gab der Heide, die wir von unserem Fenster am Birkenbusch sehen können, noch eine größere Ruhe als das Braun des Herbstes. Aber die weiße Pracht war bald vorüber. Auf den Sonntagsbrief an Dich muß ich nun verzichten, denn die Küche ist der einzige geheizte Raum und Du weißt ja, wie es da zugeht. Am Nachmittag hatten wir Besuch von Kaplan Ziran aus Gereon, es ging recht vergnügt dabei zu. Er ist noch ein richtiger Junge, trotz Amt und Würde.
Mein lieber August, was habe ich Dir in diesem Brief
wieder alles zusammengetragen an Ernstem und Frohen, Erdachten und Erlebten. Wenn ich einmal begonnen habe, drängt sich so vieles herein und es macht mich so froh Dir alles so sagen zu können. Jetzt aber muß ich zum Ende kommen, sonst vergesse ich alles andere darüber und mein Gewissen peinigt mich wegen der versäumten Pflicht. Aber das Briefschreiben ist ja auch eine „Pflicht“, wenn auch die liebste, die ich jetzt zu erfüllen habe. Muß das schön sein, wenn einmal die Erfüllung der Forderungen von Liebe und Pflicht in einem Tun zusammenfallen. Erst dann wird das Tun der Frau befriedigend sein. Alles andere, der sogen. Beruf ist ja nur Vorspiel und nur als Vorübergang zu ertragen.
Mein Liebster, ich denke so sehr an Dich und grüße Dich von Herzen
Deine Marga.
Jesus Christus,
Du bist das Wort,
das für uns spricht.
Jesus Christus, höre mich.
Höre das Unaussprechliche
meiner Sehnsucht,
meines Glaubens, meiner Liebe,
sprich du es aus!
Höre, was ich Dir sagen möchte,
von den Menschen, die ich liebe.
Deinem hochheiligen Wort
überlasse ich mein Gebet.
Größeres erwirkest Du
als ich erflehe. Amen.