August Broil an Marga Ortmann, 25. Oktober 1943
Bremen, am 25. Okt. 1943.
Meine liebe Marga,
gestern war ein wunderschöner Sonntag, ganz so wie ich ihn mir gewünscht habe; ich muß Dir davon erzählen.
Am frühen Morgen habe ich mich ganz rasch aus der Kaserne gemacht, ich wollte die Frühmesse in „meiner“ kleinen Kirche mitfeiern. Um ½ 8 Uhr sollte sie beginnen, aber nun ist sie eine halbe Stunde später gelegt. So hatte ich noch eine schöne, stille Zeit für mich zum Rückblick auf die vergangene und zum Ausblick auf die kommende Woche. Wie ein Mittelpunkt soll die Meßfeier zwischen den Wochen stehen. Nach der Messe mache ich immer eine gute Entdeckung: Ich treffe den einen oder andern Kameraden wieder, von dem ich vorher nichts wußte. Es macht froh zu wissen, daß man nie ganz alleine steht.
Der Tag schien gutes Wetter zu bringen, weißt Du nicht so ein strahlend helles Wetter
sondern die Sonne blinkte so zwischen hellen Wolken durch, und ein feiner Dunst stand in den Fernen. Sollte ich den Herbst wirklich noch so schön erleben? Ich hatte mir nicht zuviel versprochen, denn dieser Nachmittag wurde ein großes Erlebnis. Gleich nach Mittag fuhr ich zum Bürgerpark hinaus – ich wollte die Stunden des Mittagsschläfchens ausnutzen, dann würde wohl der Andrang noch nicht groß sein. Schon an der Straßenbahn sah ich überall die bunten Bäume. Ob es im Park auch so schön sein wird oder ob dort die Pracht schon vorbei ist? Vom Bahnhof aus geht man durch die Unterführung wie durch ein großes dunkles Tor, hinter dem sich die Herrlichkeit der Natur auftut; denn es sind nur wenige Schritte durch eine saubere Allee zu machen, dann sieht man schon das Baum- und Waldgewoge sich weit dahinstrecken. Zwei glühend rote Blutbuchen stehen zu Seiten des Kolonial-Denkmals, das einen aus Backsteinen gemauerten
Elefanten darstellt. Ich habe mich unter diese Bäume gestellt, so daß die Blätter wie ein leuchtendes rotes Dach über mir waren. Die Soldatenschuhe rauschen durch die mürben Kastanienblätter am Boden. Es ist eine seltsam schöne Musik, dieses Rauschen und Rascheln in den gefallenen Blättern. In all dem Braun und Rot und Gelb wirkt das satte Grün der Rhododendron-Sträucher ganz fremd. Rund um das in ruhigen Formen erbaute Parkhaus zieht sich dieses satte Grün. Es ist keine Erinnerung an den Sommer, dafür ist es viel zu schwer, zu tief, aber es bekräftigt die Farben des Herbstes. In der letzten Sonne des Jahres – sie ist mild und auch ein wenig blaß und sie lockt all die zarten Farbtöne ganz sanft ans Licht – sitze ich unter hohen Buchen auf einem flachen Hügel. Eine weite Rasenfläche dehnt sich vor mir aus. Sie ist rundum eingeschlossen von Baumgruppen, kleinen Waldanpflanzungen. Wenn ich den
Kopf etwas zur Seite neige, sehe ich am Baumstamm vorbei in die Ferne die Meierei. Es ist sehr still hier, selbst der Wind schweigt zuweilen ganz. Wenn ein Blatt sich oben vom Baume löst, dann torkelt und tanzt es wie berauscht zu Boden. Berauscht ist es sicher von der Farbenpracht, der Schönheit ringsum und der eigenen Überreife. Nun wandle ich auf den Wegen dieses bunten großen Gartens, den sich eine naturfrohe Bürgerschaft in über zwanzigjähriger Arbeit in den Jahren 1864-1886 geschaffen hat. Benque, der schöpferische Meister war wirklich ein Meister, oder war er doch nur der gelehrige Geselle des großen Meisters Natur? Aber er hat die Natur nicht vergewaltigt, er hat ihr Raum gegeben, sich zu entfalten, ihre Pracht und Vielfalt zu zeigen. Wunderschön gewachsene hohe Buchen, schlanke und doch wuchtige Fichten, machtvolle Eichen, schimmernde Birken, leuchtenden Ahorn, greisenhafte, dunkle Eiben findest Du dort unter den vielen andern, mir unbekannten Baumarten.
Oft stehe ich auf einer Brücke, lehne mich über das Geländer und schaue in das stille dunkle Wasser hinab. In den Buchten hat der Wind die schwimmenden Blätter zusammengetrieben. Und stolze Schwäne „ziehen so königlich“ durch die Flut. Ich mußte an Aachen denken und an den Spaziergang im Park, als ich Dir Rilkes feines Gedicht zu sagen versuchte. Dieses Weiß in all den bunten Farben des Herbstes! Schön war es, als der Weg durch das gedämpfte Licht des Waldes führte. Ich mußte immer an unsere Wälder im Bergischen Land denken und in der Nähe Altenbergs. Hier war das Wasser ähnlich den Altenberger Weihern mit einer Schicht stumpfen Grüns übergossen. Der Kahn der Ruderer schnitt unbarmherzig eine dunkle Rinne in den sanften, matten Teppich. Die Sonne war jetzt ganz lange hinter einer großen Wolke, die so langsam weiterzog. Aber die Farben sind noch nicht erblaßt, sie sind viel zu leuchtend dazu; doch ist das
Licht in ihnen still und stetig. Der Besucher im Park werden jetzt mehr und mehr. Sie kommen mir alle entgegen, während ich meine Schritte wieder hinauslenke, dem Abend der Stadt zu. Ja Marga, es war ein reicher Tag, ich bin so reich beschenkt worden an diesem Sonntag, wirklich ein Tag des Herrn, eine hohe Mitte zwischen den Wochen. Und dieser Herbst ist so schön mit seiner sanften, tiefen Herbe. Bald wird die Stille von Stürmen hinweggefegt werden, die vom Meer herüberwogen. Regen werden hineinfallen in die Pracht der Farben und das Rascheln am Boden wird ersterben zu einem tonlosen Patschen und Gurgeln. Dann wird alles wie tot sein, doch die Schwelle des Neuen ist schon überschritten: die Erwartung ist etwas großes in jeglichem Leben.
Du, meine Marga, ob ich es wagen darf auch hier den Vergleich zu unserem Leben zu setzen? Gehen wir mit der Pracht des
Herbstes nicht auch in eine Zeit der Erwartung hinein, der Erwartung ganz großen und herrlichen Geschehens zwischen Dir und mir?
Liebste, ich habe Dir diesen Brief so ganz einfach aus dem Innern hingeschrieben, so wie das Erleben von gestern in mir haften blieb, um Dich wenigstens etwas daran teilhaben zu lassen. Ich wollte keine tiefen Gedanken schürfen, nur so erzählen wollte ich; aber es sind doch wieder einige Gedanken zwischen die Zeilen geraten.
Ich habe heute morgen für Samstag und Sonntag Urlaub eingereicht; hoffentlich wird er genehmigt. Es ist der früheste Termin nach dem Erholungs-Urlaub; aber er fällt noch in diesen Monat, vielleicht gelingt es dann nächsten Monat noch einmal.
Nun sei mir ganz herzlich gegrüßt, meine Liebste; wir sehen uns ja bald wieder.
Dein August