Marga Broil an ihren Mann August, 22. Mai 1944

Köln, Montag den 22. Mai 1944.

Mein lieber August,

es war ein recht rauher Frühlingstag gestern in Wipperfürth; als Agnes und ich in der schönen Umgebung auf die Berge stiegen, strich uns der Wind recht unsanft um die Ohren. Von der Höhe aus hatte man einen herrlichen Blick auf die vielen Hügelketten des Bergischen Landes. Das Schwarz-Weiß der Fachwerkhäuser mit den grauen Schieferdächern und den grünen Türen und Fensterladen leuchtete überall aus dem Grün der Wiesen und Felder heraus. Die Gärten, meist von grünen Hecken umzäumt, standen in voller Blütenpracht; Tulpen, Flieder und der zarte Hauch der Obstbaumblüten wetteifern miteinander. Aus einem Garten strömte mir der süße Duft des Goldlack entgegen; er paßt eigentlich in seiner Lieblichkeit zu dem Ernst seiner Blüten und der Würde seiner satten Farben garnicht. In einem hohen dunklen Fichtenhain irrte ein kleines blondes Mädchenkind umher, sah uns mit seinen großen blauen Augen fragend an und ließ sich willig an der Hand führen in die Nähe der Häuser, wo wir die Eltern vermuteten. Es war so ein seltsamer Anblick, das kleine helle Menschenkind allein unter den großen dunklen Bäumen. Mir kam das Lied in den Sinn: „Ich ging im Walde so für mich hin und nichts zu suchen das war mein Sinn. Im Schatten sah ich ein Blümlein stehen...” Gibt es etwas Schöneres als der Anblick eines Kindes, einer Menschenblume, inmitten der Natur? Lange gingen wir nach dieser kleinen Begegnung schweigend nebeneinander her und ich stelle mir vor, wie schön es wäre, wenn Du neben mir gingst, wenn Du all das Schöne mit mir schauen und erleben könntest und ich Dir an einem stillen

verschwiegenen Ort da draußen, wo keines anderen Menschen Blick und Schritt hingelangt, davon sagen könnte, wie ich auf diesen Wegen das Leben unseres Kindleins unter meinem Herzen immer deutlicher gespürt habe, wie ich still lauschend seine Bewegungen verfolgen kann und davon beglückt werde. Und wenn die Trennung, die Ferne, die Sehnsucht zu Dir hin mich einmal traurig machen wollen, dann erinnert mich das Regen des Lebens unseres Kindleins daran, daß ich doch eigentlich gar keinen Grund habe traurig zu sein, daß ich ja trotz aller Trennung nicht alleine bin, sondern daß Du mir ja so ganz nahe bist in unserem Kindlein, das ich als meinen kostbarsten Besitz unterm Herzen tragen darf.

An einem Abhang weidete ein alter Hirt seine Schafe. Ich mußte daran denken, wie wir auf einem unserer ersten gemeinsamen Wege von Poll kommend hinter Gremberg einer Herde begegneten. Wir sahen die Lämmlein, die ein wenig ungelenk hinter dem Muttertier dahertrotteten. Du deutetest auf eines der Alten, das schlecht vorwärts kam, weil es schwere Last zu tragen hatte und sicher bald einem neuen kleinen Lamm das Leben schenken würde. Sieh' wir können getrennt sein, ganz gleich an welchem Ort, überall ist der Gedanke an unsere Gemeinsamkeit wach und der kleinste Anlaß läßt die Stunden gemeinsamen Erlebens in der Erinnerung aufsteigen. Du weißt ja wie tief sich alle unsere Erlebnisse in mein Herz gesenkt haben und wie glücklich es mich macht, wenn ich mich immer wieder neu daran erfreuen darf.

Agnes hat mir auf dem sonntäglichen Gang durch die Wiesen und Wälder manches erzählt, was sie in ihrem Leben hat erfahren

müssen, wie oft sie hin- und hergeworfen wurde und sich manchmal nur noch am äußersten Rand des Abgrunds hat halten können. Wie schwer müssen sich doch manche Menschen den rechten Weg erkämpfen; ist es da verwunderlich, daß unter aller anderen Hülle die Schwermut das Herz ergreift? Wie gerade und unbeschwerlich hat mir dagegen der Herrgott meinen Weg bisher gestaltet, ja, ich habe allen Grund dankbar dafür zu sein und Ihn um seine Kraft zu bitten für die Stunde, da Er auch von mir Schweres und Entscheidendes fordern wird; denn daß von jedem das bestimmte Maß gefordert wird, ob früher oder später, ist gewiß.

Auf der Rückfahrt heute morgen in aller Frühe hielt der Zug an der kleinen Bahnstation vor Opladen, wo wir an dem letzten gemeinsamen Sonntag vor Ostern von Altenberg kommend, gemeinsam die Pfade Deiner Jungenstreiche gegangen sind und nachher in Leverkusen die Passion zusammen gehört haben. Ach, es sind so viele Fäden, die hinüber- und herübergehen und sie machen uns alle so froh. - Als ich eben zu Hause ankam, habe ich mich zuerst von Deinen beiden Briefen beglücken lassen, (v. 12. + 15.) die zu mir gekommen sind. Du müßtest es einmal sehen können, weißt Du so ganz still und unbemerkt aus einem Winkel heraus - schildern kann ich das ja garnicht - welch herrliche Stunden mir Deine Briefe immer bereiten. Es ist so, als seiest Du wieder ganz unverhofft „zu Besuch” gekommen und ich meine, ich müßte Dich leibhaft vor mir stehen sehen und die Sehnsucht, Dir all das durch meine Liebe zu vergelten, was Deine Worte in mir bewirkt haben, ist dann ganz groß in mir. Wenn Du hier wärest,

könntest Du ja alles von meinen Augen ablesen können und ich würde Fenster der Seele ganz weit auftun, damit Du recht tief in mein Inneres hineinschauen könntest. Wenn ich dann so, in Gedanken ganz bei Dir, vor dem Schreibtisch sitze, Dein Bild in der Seele festhaltend, dann stände ich am liebsten nicht eher auf, bis das Echo Deiner Worte in einem Brief an Dich Ausdruck gefunden hat. Aber meistens muß es mich erst noch durch manche Stunde des Alltags begleiten, ehe ich Gelegenheit dazu finde.

August, mein Liebster, noch ist keiner meiner Briefe bei Dir, die Dir von dem beglückenden Erleben erzählen, das mir durch die ersten Regungen unseres Kindleins geschenkt wird, und doch wie fein und zart hast Du Dich in Gedanken da hineingefunden. Am Abend habe ich Deine Worte immer wieder aus meinem Herzen hervorholen müssen und als sich gerade da unser Kindlein wieder zu regen begann, habe ich danach verlangt, ihm das alles in sein kleines Herzchen zu senken: Schau, das ist Dein Vater! Ach, es ist so schade daß Du all das Schöne nicht wirklich mit mir erleben kannst; aber das Bewußtsein, daß Du uns in Gedanken so nahe bist, dem Kindlein und mir, ist mir ein großer Trost. Sieh' und wenn unser Kind auch noch so lange die körperliche Nähe, die persönliche Begegnung mit seinem Vater entbehren müßte, Du kannst ihm dennoch kein Fremder sein. Wo die Liebe zu Dir so stark in meinem Herzen brennt, muß sie nicht auf sein kleines, werdendes Menschenherz übergehen, das so innig mit dem meinen verbunden ist? Da gerade das Pochen seines Lebens die wärmsten Gedanken und innigsten Gefühle für Dich in mir bewirten, muß da nicht das

untrennbare Verbundensein den ganzen Raum unserer Gemeinsamkeit umschließen, Dich, das Kindlein und mich? Sieh', ich finde, eine der schönsten Aufgaben des Mutterseins liegt darin, dem Kinde die Liebe in die kleine Seele zu pflanzen, die Liebe zum Vater im Himmel und die Liebe zu seinem Vater hier auf Erden, und wann könnte das besser geschehen als gerade noch zu der Zeit, da das kleine Menschlein noch unter dem Herzen der Mutter ruht und die Verbindung von beiden so innig ist, wie es körperlich und seelisch nach der Geburt nicht mehr möglich ist.

Mein lieber August, gestern abend konnte ich den Brief nicht mehr beenden, Bruno und Helene haben mir einen Besuch gemacht. Bruno ist aus dem Lazarett entlassen und hat 3 Wochen Urlaub bevor er wieder zum Ersatz nach Bielefeld weg muß. Die beiden sind ein recht lustiges Gespann, man muß Freude an ihnen haben.

Am Sonntag war Muttertag; da ich am Tage selbst nicht da war, bin ich Samstagmittag mit einem feinen Strauß gelber Tulpen zu Deiner Mutter gegangen. Sie ist so dankbar für jede kleine Aufmerksamkeit und ich versuche ihr hier und da schon mal eine Freude zu machen, denn sie hat sie ganz besonders nötig. Sie ist jetzt oft so sehr bedrückt von den Geschehnissen des Krieges und macht sich ganz besonders viel Sorge um Dich. Manchmal ist ein recht energisches Wort nötig, um ihr die ängstlichen Bedenken zu verscheuchen. Die Erwägungen, die sie oft ausspricht, könnten mich manchmal traurig machen, wenn ich nicht wüßte, daß sie aus Mutterliebe - und Sorge hervorgingen. So sehr

sie sich mit uns auf unser Kindlein freut, all die vielen Bedenken drohen ihr manchmal die Freude zu rauben. So sagt sie so oft, wo es jetzt so weit mit uns sei, wäre für Dich und mich alles, was eintreten könne, schwerer zu ertragen als vordem. Ich habe ihr darauf hin so manches Beispiel aus dem Freundeskreis erzählt von Menschen, von denen wirklich das Schwerste in der gleichen Lage gefordert wurde, die aber keinen Schritt in der Entwicklung ihrer Gemeinsamkeit ungeschehen machen wollten, sondern jetzt erst recht für alles Empfangene und Geschenkte dankbar sind. Ich mußte an den tiefsten Bereich ihrer Seele appellieren, an das Vertrauen zu Gott, mit dem wir allein die Schwere unserer Zeit tragen und überwinden können. Schreibe ihr doch bitte gelegentlich einmal ein aufmunterndes Wort, es wird sie gewiß froher und zuversichtlicher machen.

Liebster, jetzt muß ich wieder Abschied von Dir nehmen. Ich habe in der Stadt zu tun und nehme den Brief mit zur Bahn, damit er Dich hoffentlich recht bald erreicht.

Mein August, wir wollen uns miteinander freuen an all dem schönen Erleben, das uns durch unsere Gemeinsamkeit und unser Kindlein geschenkt wird. Wenn ich diese Freude ganz groß in Dir weiß, dann ist mir nicht bange darum, daß Du mit dem Schweren und Bedrückenden unserer Zeit - das ja an uns beiden nicht spurlos vorübergeht - nicht fertig werden solltest. Wir nehmen alles in Bereitschaft gemeinsam auf unsere Schultern und bitten den Herrn um Seine Kraft, dann wird's schon gelingen.

In herzlichem Gedenken bin ich immer

Deine Marga.