Marga Broil an ihren Mann August, 7. Oktober 1944
Eine kleine Spanne Zeit ...
eine Glocke wandert weit
und der Tau der Stille weint
auf ein Hüglein unter Hügeln,
o du kleine Spanne Zeit!
Rheinbach, den 7. Oktober 1944.
Mein Liebster, Du,
wie ist doch das Lied von der kleinen Spanne Zeit im Leben unserer Gemeinsamkeit Wirklichkeit geworden. Ja, die Spanne von „der Jungfrau als Braut” bis zur „Traube löst sich los aus verschwiegener Beschwerde” und von da bis zu dem „Hüglein unter Hügeln” ach, sie war so kurz, wie sie kürzer garnicht sein konnte. Ob der kleine Leib unseres Kindes nun schon unter dem Hüglein ruht? Die beiden Mütter und Finni, die am Morgen, als ich ihn noch in meinen Armen hielt, kamen, haben ihn mit heimgenommen, damit er auf dem Boden unserer Stadt ein Plätzchen findet.
Mein lieber August, wie mag es nun in Deinem Innern aussehen, seitdem mein Brief mit der Nachricht vom Heimgang unseres kleinen Winfried bei Dir ist. Wie griff es mir ans Herz, als am Tage seines Heimgangs Dein Brief vom 26.9. zu mir kam, aus dem mir noch die ganze Freude auf sein Kommen entgegenstrahlte. Ach Du armer lieber Papa, könnten wir doch nur jetzt zusammen sein, um diesen Schmerz gemeinsam zu tragen! Wenn ich Dir einmal alles erzählen könnte, was ich in den kurzen Stunden seines Daseins Schweres und Beglückendes erlebt habe, wenn ich mich an Deinem Herzen einmal ausweinen könnte, und Du bei mir, ach dann wäre gewiß alles viel leichter zu ertragen. Wenn doch nur ein liebes Wort von Dir zu mir käme,
ich habe mich noch nie so sehr danach gesehnt wie jetzt. Aber ich, die ich immer die Freuden des Alleinseins so sehr gesucht habe, sollte in diesen Tagen wohl einmal die ganze Bitterkeit des Einsamseins verspüren. Und glaubst Du, all das Glück, das mir durch unser Kindlein geschenkt wurde, ist schwerer alleine zu tragen als der Schmerz.
Der Gedanke, daß es Dir nicht vergönnt war, sich an ihm zu freuen und keiner unserer Lieben, ist mir so hart. Aber ich war ja in den Tagen von allen abgeschnitten, keinerlei Verbindung war möglich. Nur Finni, die treue Seele, hat alle Hindernisse zu überwinden gewußt und sie war die Einzige, die sich mit mir an unserem kleinen Winfried noch einige Stunden erfreuen durfte; sie hat ihm noch die langen schwarzen Häarchen gestrichen, ihn auf dem Arm gehalten und in die großen schwarzen Äuglein geschaut. Wie habe ich mich über ihren Ausruf gefreut: Ganz August, genau der Vater! Ach August, so tief ist sein kleines Bild in mich eingegangen und da steht es nun neben dem Deinen und beide empfange ich mit der gleichen Liebe. Wie viel muß ich Dir noch von ihm erzählen, damit sein Bild auch in Dir ganz lebendig werde. Denn seine kleine Seele wird Dir doch sicher ganz nahe sein und ich möchte so gerne, daß auch Du jene zarte, innige Verbindung zu ihm haben kannst, die mich trotz allem menschlichen Schmerz so sehr beglückt. In den langen Stunden des Alleinseins, - ich bin wieder so weit, mich des Alleinseins zu freuen - in denen ich ja noch äußerlich zum Untätigsein verurteilt bin, habe ich reichlich Gelegenheit mich in all das, was mit unserem Kindlein geschehen ist, recht tief hineinzudenken. Und ich muß auch weiterhin noch mit ihm Zwiesprache halten,
so wie ich es in den Monaten, da es unter meinem Herzen weilte, und in den kurzen Stunden, die ich es in meinen Armen halten durfte, getan habe. Und diese seelische Hinwendung zu unserem kleinen Engelein gibt mir soviel Trost und eine schöne innere Ruhe, die ich auch Dir, Liebster, so von Herzen wünsche. Es kommen freilich immer wieder Stunden, in denen der menschliche Schmerz mich zu übermannen droht; dann heißt es das Herz in beide Hände nehmen und alle seelische Kraft zusammenraffen, um das einmal gesprochene Ja zum Willen des Vaters wiederholen zu können. Denn es ist ja nicht damit getan, es einmal gesagt zu haben, täglich wird es neu gefordert und es muß jedesmal neu errungen werden. Als mir eben die Windeln, Jäckchen und Hemdchen gebracht wurden, die unser Kindlein getragen hat, da überfiel mich wieder die ganze Härte des Opfers, das der Herrgott von uns gefordert hat. Ja, wir haben ihm das Liebste geben müssen, - nein, wir wollen sagen, wenn auch mit blutendem Herzen, schenken dürfen - das wir besaßen, unser erstes Kind, die Incarnation unserer Liebe. Wenn wir es einmal recht bedenken, mein lieber August, muß uns dann nicht die Erkenntnis erfreuen, daß unser beider Wirken, das der Herr mit diesem Kind gesegnet hat, wirklich nur für Ihn geschehen ist; daß es für Ihn in der Hingabe unserer Liebe gezeugt wurde, daß ich es für Ihn unter meinem Herzen getragen habe und für Ihn die Freuden und Schmerzen der Geburt habe verkosten dürfen. Letztlich tritt ja jedes neue Menschenkind für Ihn ins Dasein, wir aber durften Ihm im Verzicht auf all die Freuden, die den Eltern sonst durch das Leben der Kinder geschenkt werden,
etwas Besonderes geben. Vielleicht soll das unser Anteil sein, den wir in die große Opferschale des Krieges zu legen haben, die - so wollen wir es hoffen - einmal die Heimholung der Welt in die Vaterliebe Gottes bewirken soll. Von jedem werden heute Opfer gefordert, Opfer, die die Tiefe des menschlichen Herzens erschüttern. Die kleine Anneliese hat ihren Toni hergeben müssen, Lore Heinen und Maria Weyerstraß bedrückt die bange Sorge um den liebsten Menschen, von dem sie nichts weiteres wissen als die furchtbare Ungewißheit: Vermißt. Mutter erzählte mir, daß unser Echen, als es von der Lebensgefahr unseres kleinen Winfried hörte, gesagt habe: „Sage der Marga nur, daß Lore sicher gern mit ihr tauschen wolle.” Wie die Härte unserer Zeit selbst schon die Kinder erzogen hat, sich mit den ernsten Gegebenheiten unserer Tage abzufinden. Möge all das, was wir zu bestehen haben, nur dazu beitragen, uns selbst zu jenem Menschen zu formen und heranzureifen, den der Herrgott in uns haben will. Und wenn ich recht in mich hineinhorche dann meine ich sagen zu müssen, daß ich wirklich als ein anderer Mensch aus diesen kurzen Tagen des Mutterwerdens - und Seins hervorgegangen bin. Wenn schon die Tage vorher durch die tiefere Erkenntnis des eigenen Wesens so wertvoll für mich waren, - wovon meine Briefe an Dich etwas auszusagen versuchten - so waren es erst recht die Tage selbst die mir ein so tiefes, schönes und schmerzhaftes Erleben schenkten.