August Broil an seine Frau Marga, 2. Juli 1944

Frankreich, den 2. Juli 1944

Meine liebe Marga,

nun ist es Sonntag abend geworden, die Dämmerung bricht sanft herein. Es sollte ein langer Brief an Dich schon fertig sein, und nun fange ich erst an, stets gewärtig, daß wieder irgendein Störenfried kommt und mich aus den Gedanken herausreißt, unwissend und täpsisch. Das ist aber Soldatenlos, daß er fast nie Herr seiner Zeit ist, auf Schritt und Tritt gefaßt sein muß, daß ein „Vorgesetzter” kommt und „befiehlt”. Oft lehnt es sich dann innerlich auf. Man spürt weder die Gewalt oder die Kraft des Befehles noch das von innen heraus Zwingende des Gehorsams, der sich meist auf solch banale und nichtige Dinge beschränkt. Ich muß ehrlich sagen, daß es mir oft genug Schwierigkeiten bereitet, die rechte innere Ruhe und Ausgeglichenheit zu haben. Es müßte so sein, daß man darüberstehen könnte und daß man sein Leben unabhängig davon nach eigenen und höheren Gesetzen leben könnte. Aber das Leben um mich herum drängt sich so stark auf mich ein und ich bin so da hineingebunden, daß ich manchmal wie fest daran zu kleben glaube. Bei allem was um mich herum geschieht, meine ich Sinn und Zusammenhang einsehen zu müssen, damit ich von innen heraus Ja dazu sagen kann. Und doch könnte ich viel daraus lernen, wenn ich es fertig brächte, einfach die Dinge so hinzunehmen, nicht stur und verkrampft, sondern frei und ungezwungen in dem Bewußtsein, daß einmal das Leben in den seltensten Fällen die Dinge so anordnet und bringt wie die eigene Vorstellungskraft es wünscht, und zum andern, daß man sich eben garnicht dazu herabläßt, die Dinge im Grunde so ernst zu nehmen, wie man sie sich macht. Ob ich gar den Vergleich ziehen darf zu dem großen Leben und Geführtwerden nach oben hin und von oben her, das das göttliche Wirken mit uns vorhat? Und gerade darin haben wir immer wieder gute Erkenntnisse gesammelt und in Briefen zum Ausdruck gebracht. Könnten wir in diesen kleinen Dingen nicht viel lernen, um uns auf die Bewährung in den großen und entscheidenden Dingen vorzubereiten? Das muß ich unbedingt

wenn es auch eine gründlichere Überwindung und sogar Umstellung mancher Charaktereigenschaften vom Minus- zum Plusteil der Bewährungsskala kostet. Von dieser Warte aus will ich jetzt einmal mehr und mehr versuchen, dieser Schwierigkeiten Herr zu werden, und vor allem dem zuvorkommen, daß ich durch Einwirkung von außen her zur Besinnung und Einkehr getrieben werde. Denn das kostet ja einige Nervenkraft.

Meine Liebste, nun habe ich wieder aus dem Erleben des Augenblickes heraus geschrieben, was hier an Schwierigkeiten auftaucht und mich, wenn auch nicht gerade verfolgt, so doch in gewissem Maße belastet. Ich habe nicht gerne davon geschrieben, obwohl mich der Augenblick von innen heraus dazu trieb. Und doch bereitet es mir eine gewisse Beruhigung, daß ich Dich habe, um Dir alles so offen sagen zu können und daß Du es auch gerne hast, Dich um all das wissen zu lassen, was mich erfreut oder bedrängt, und zwar das letztere meist noch stärker.

So brach am Sonntagabend die Dämmerung herein. Die Kameraden versammelten sich um den Tisch, der in der Nähe unseres Wagens unter einem Zeltdach gegen Regen geschützt, aufgestellt ist. Sie erzählten von zu Hause, von den Gewohnheiten ihrer Heimatlandschaft, und aus allen Stimmen klang recht viel Sehnsucht heraus. Dann wurde es Nacht und still (auch beim fernen Lärm der Front kann es still sein). Ich ging eine Weile aus unserem Lagerplatz heraus an den Wegrand, von wo aus man das Land eine Strecke weit überblicken kann. Auf der Weide zirpten die Grillen ihr unermüdliches, monotones Sommerlied. Die Gedanken gingen frei hinaus von der schönen und auch so geächteten, geschändeten Erde. Sie müssen zuweilen einmal frei werden, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Und dann mußte ich an Dich denken, an uns, an unsere Familie, die auch in der zerstörerischen Wut der Selbstzerfleischung der Menschen nicht aufhört zu wachsen, denn sie wächst ja sichtbar und trotz aller räumlichen Trennung. Das Denken daran beglückt mich immer so sehr: Wir können etwas tun und mit uns wird etwas getan, obwohl wir eigentlich zur Untätigkeit

verurteilt wären. Die gütige Vorsehung des Vaters im Himmel hat uns das Glück zuteil werden lassen, daß wir wirken konnten. Es muß uns stets von neuem glücklich machen, wenn die Gedanken über all diese großen Dinge nachsinnen.

Du, meine liebe Marga, der Monat Juli, der soeben begonnen hat, ist für unsere beiden Leben von ganz besonderer Bedeutung. Im vorigen Jahr, in der zeit unseres jungen Brautstandes, stürmten tiefste, den Grund der Seele aufreißende Erlebnisse auf uns ein, dazu war äußerlich das Leben und die bürgerliche Existenz bis an den Rand des Abgrundes gedrängt worden. Und all dies Schwere hat sich zu der schönsten Harmonie entwickelt, die wir uns denken können. Nicht lange mehr, und wir können mit Freuden das Gedächtnis eines unserer schönsten Tage feiern, der es wahrlich wert ist so gebührend bedacht zu werden. Denn mit diesem Tage lockerten sich alle bis zur Hochstimmung geladenen Kräfte der Herzen in einen wunderschönen Wohlklang auf. Einige von den Bildern, die ich ständig bei mir trage erinnern mich so schön an jenen Tag. Ich betrachte sie zuweilen mit einer hingebenden Innigkeit.

Beide schreiten wir in diesem Monat in ein neues Jahr unseres Lebens, das uns vom Herrgott geschenkt ist. Und jedes Jahr ist uns mit allem, was wir darin erleben und erleiden ein neues Geschenk. Das jetzt vollendete Jahr glänzt uns, da wir es rückblickend überschauen dürfen, besonders schön und reich entgegen. Wir dürfen voll tiefer Dankbarkeit zurückschauen und sagen: Herr, Du hast Gutes mit uns gewirkt, Freude und Kraft ist in unseren Herzen gewachsen. Weil Du alles so gut gelenkt hast, darum laß uns mit gutem Vertrauen in das neue Jahr unseres jungen Lebens hineingehen. Wir wollen Dich suchen, wo immer es möglich ist, auch da, wo Deine Spuren im Getümmel fast verwischt sind. So, meine Liebste, laßt uns über die Ferne hinweg einander die Hände reichen, damit wir etwas spüren von den guten Wünschen und Vor-

sätzen, die wir füreinander haben.

In Deinem Brief schreibst Du so schön über die Ausschmückung unseres Heims. Ich weiß, Du machst das so als ob ich dabei wäre, überhaupt bei jedem Bild, das Du neu aufhängst, ob ich es auch so machen würde. Ach wie schön ist das alles, auch jetzt, da Du es allein tun mußt, weil ich in Gedanken ja stets dabei bin.

Marga, meine Liebste, wieder bricht der Abend an, läßt die Gedanken weit und still werden. Die Tage vergehen so ungeheuer rasch hier draußen, und ich meine, daß das wenigstens ein Trost und ein Glück ist. Umso schneller kommt auch der Zeitpunkt des Wiedersehens. Jüngst kam ein zweiter Brief mit dem Johannes-Evangelium an, nachdem ich vorher Lukas erhielt mit Deiner Aufstellung der Sonntagsevangelien. Wie Du Dir Sorge machst um die Feier meiner Sonntage; und diese Sorge hat sogar ein gewisses Recht. Wenn wir unterwegs sind, dann wissen wir garnicht, welchen Tag wir haben. Das Läuten eines Dorfglöckleins erst gemahnt, daß der Tag des Herrn gefeiert wird. Von Mitfeiern im gewohnten Sinne kann gar keine Rede mehr sein. Selten kommt man zu einer guten Lesung am Sonntag. Manchmal ist die einzige Sonntagsfeier die, daß ich so nebensächliche Verrichtungen wie Wäsche waschen u. dgl., was manche Kameraden mit Vorliebe - nicht aus Böswilligkeit - Sonntags machen, bewußt zurückstelle. Es ist fast nur noch ein kleines Erinnern, aber doch für unsere Verhältnisse ganz bedeutungsvoll. Dafür aber ist die Hoffnung, daß eines Tages in unserer Gemeinsamkeit und in unserer Familie das alles wieder anders und schön sein wird, umso größer.

Liebste, so habe ich Dir wieder einige Erlebnisse aufgezeichnet, erfreuliche und weniger erfreuliche. Nimm sie alle so hin wie sie sind und in dem festen Hoffen, daß alles in seiner rechten Beziehung zu uns selbst auch die rechte Wirkung für unsere Gemeinsamkeit vollbringe. So bin ich denn jetzt mehr denn je Dein

August.