Kaplan Stiesch an Dr. Alois Sistermann, 11. August 1940

11. Aug 40

Lieber Freund!

Das war ja ein merkwürdiges Zusammentreffen: Ihr Telefongespräch gerade als ich zufällig in Ihrem Heim weilte. Gerade hatte ich 14 Tage mit Unterbrechungen Urlaub. Wie gern hätte ich Sie mal eben begrüszt! Ich war in den Tagen bei meiner Schwester in Rath. Nun ja, einmal noch werden wir Frieden und normale Zustände erleben dürfen und können uns dann ausgiebig wieder sehen.

Für mich war die Begegnung mit einem alten Freunde Ferdinand Müller, ich schrieb Ihnen davon, ein starkes und schönes Erlebnis. Vor 15 Jahren haben wir uns kennen gelernt. Er war damals schon ein durch den Krieg gereifter Mensch, ich damals ein 15 jähriger, ein Werdender und bin es wohl heute noch. Nichts paszt innerlich so wenig zu mir, wie die einzelnen grauen Haare. Das merkwürdige ist, dasz man sich sofort wieder so gut versteht, wie damals, und mag man sich auch 4 – 5 Jahre nicht mehr gesehen haben. Hoffentlich kann ich ihn Ihnen einmal vorstellen.

In den Ferien war ich auch zur Beerdigung des Dechanten Bertrams, der unsern Pfarrer Landmesser noch eingeführt hat. Ich habe von diesem Tag ein Bild, auf dem mein Bruder und ich die einzigen noch Lebenden sind. Alle dahin, die beiden genannten, Kaplan Hannen, Professor Berg. Man spürt oft die Wahrheit des vita somnium breve.

Herzlichst