Ludwig Kreuser an Kaplan Stiesch, 25. August 1940

Ste. Ménehould, 25.8.40

Hochw. Herr Kaplan!

Für Ihren Brief v. 13.8. danke ich ihnen sehr. Ich kann nur bestätigen dass ich hier an der Aisne, wo der Weltkrieg so erbittert getobt hat, auf historischem Boden stehe, der mit tapferem Soldatenblut reichlich getränkt worden ist. Hier in Sainte-Ménehould ist ein Heldenfriedhof, der über fünftausend französische Soldaten birgt. Die Gräber sind wohl in Stand gehalten, jedoch haben die letzten Kämpfe dieselben etwas in Mitleidenschaft gezogen. All die weißen Steinkreuze, die peinlich-genau in Reih’ und Glied stehen, sprechen den Menschen an, der diesen Ruheplatz der Helden beschreitet. Und so findet man viele dieser Heldenfriedhöfe mit den langen, langen Gräberreihen und den vielen Kreuzen, die sich erheben in diesem

Gebiete des Argonnerwaldes und eine ernste Sprache sprechen.

Mein Bruder Hubert, der in meiner Nähe ist, wird in den nächsten Wochen Urlaub bekommen, und wenn alles gut geht, werde ich Mitte Oktober auf Urlaub zu Hause sein. Ich persönlich ersehne meinen Urlaub in erster Linie, um meiner Seele einmal wieder neuen Sauerstoff zukommen zu lassen, denn hier leidet meine Seele großen Mangel. Da wir jeden Sonntag-Morgen Dienst haben, ist es mir nicht möglich, die Kraft des hl. Messopfers zu schöpfen; ich kann nur, wenn ich nach Dienstschluß oder Sonntag-nachmittags Gelegenheit habe, das hl. Altarssakrament besuchen. Vergangenen Sonntag hatte ich nach drei Monaten wieder einmal das Glück, der hl. Messe beiwohnen zu können,

und zwar wurden wir diesmal zur Militär-Messe geführt. Es fanden sich viele Kameraden ein, und kräftige Männerstimmen erschallten auch ohne Orgelbegleitung und erfüllten den Kirchenraum mit ihren heimatlichen Leidern; der Feldgeistliche wählte die Einheitslieder aus, die von allen gekonnt und begeistert gesungen wurden. Weiter bedauerte der Geistliche, dass er leider nur selten zu uns kommen könne, da er einen großen Sprengel zu betreuen habe.

Nicht wahr, Hochwürden, es ist doch seltsam, ich lebe hier in einem katholischen Lande, mit vielen, herrlichen Kirchen, (ich habe hier noch kein Dorf, und sei es das kleinste, ohne Kirche oder größere Kapelle angetroffen) und muss doch selbst eine Diasporanot erleiden; das bringt der Krieg zustande!

Das was Ihrem Vetter passierte, hat sich

mit mir ebenso ereignet. Es war sonderbar. Ich kam in die Nähe einer Kirche und hörte die Orgel spielen. Als ich die Kirche betrat, setzte die Orgel aus. Alsbald erschallten die Klänge wieder für wenige Sekunden. Ich kletterte auf die Orgelbühne und sah, wie jemand sich bemühte, den Blasebalg zu treten, um dann nachher die gesammelte Luft für ein kurzes Orgelspiel aufzuwenden. Sogleich trat ich an den Blasebalg, - und beide hatten wir die Freude, die Klänge der Orgel in allen Tonarten zu vernehmen. Somit hatte ich durch diesen Zufall einen Kameraden gefunden, der von Beruf Organist war. Wir besuchten auch noch eine andere Kirchen, deren Orgel eine elektrische Anlage hatte; hier ging es noch besser. Als die Sonne ihre letzten Strahlen durch die Kirchenfenster sandte, zeigte

die Uhr bereits die einundzwanzigste Stunde an, - so flog die Zeit vom Nachmittag bis zum Abend im Orgelspiel an uns vorüber. Es war für uns beide ein Genuß. Mit einem herzlichen Händedruck verabschiedeten wir uns, beide ein Stück Heimat gefunden zu haben, und kehrten in unseren Standort und unsere Quartiere zurück.

Mit Ihnen, hochw. Kaplan, und allen in der Heimat den baldigen Frieden ersehnend, damit wieder Ordnung werde in den Völkern und Staaten, grüße ich Sie und die übrige Pfarrgeistlichkeit als Ihr Soldat

Ludwig Kreuser
30037B