Werner Niederwipper an Kaplan Stiesch, 17. September 1940
36458 B, am 17.9.1940.
Lieber Herr Kaplan!
Besten Dank für den Brief und frohen Gruß aus Frankreich!
Am vergangenen Sonntag bin ich hoch auf die Kuppel der Kathedrale gestiegen, die ganz beachtliche Dimensionen hat. An manchen Stellen wurde die Kletterei sogar gefährlich, nämlich, wo die Granaten in die Wände eingeschlagen waren. Es gab da Stellen wo die Säulen und der Boden zerschossen waren. Man mußte über den Abgrund wegturnen. Dafür lohnte aber, oben angekommen, ein herrlicher Blick über Stadt, Land und Meer bis auf die englische Küste.
Die Kathedrale ist überhaupt ein interessanter Bau. Auf den Grundmauern einer romanischen Kirche erbaut, erhebt sich ein monumentaler Renaissancebau, dem man, von der schönen Krypta ganz abgesehen, die romanische Urform immer noch an-
sieht. In Kreuzform angelegt, wölbt sich über der Mitte des Kreuzes eine hohe Kuppel, die in 3 Rundgängen erst 12 schöne steinerne Sessel mit den Namen der Apostel, dann 9 Altäre (Chöre der Engel) und endlich in der höchsten Spitze symbolisch den Thron Gottes enthält. Die Innenfläche der Kuppel ist dabei mit nach oben zu immer kleiner werdenden und dichter stehenden rautenförmigen Keramikplatten in tiefblauer Farbe versehen, die durch ihre geschickte Anordnung dem Beschauer eine noch viel größere Höhe als die schon tatsächlich vorhandene vortäuschen.
Außer einer Reihe schöner alter Ölgemälde und einer sehr feinen Holzkanzel, birgt der Dom noch ein Gnadenbild Uns. lieb. Frau, welches die hl. Jungfrau in einem Kahn sitzend vorstellt, und die Nachbildung des Grabes des Gottfried von Bouillon, dessen Original sich in Jerusalem befindet. Gottfried von Bouillon war ein Kind dieser Stadt, und die Kathedrale erhebt sich innerhalb der alten Mauern seiner hochgelegenen
Burg, von der heute nur noch ein paar Tore stehen und eine alte Zitadelle.
So gibt es hier immer etwas Neues zu entdecken, und überall, in aller Welt, wohin man auch kommen mag, findet man neue Schönheiten. Und wenn der Kriegsdienst auch die Zeit sehr in Anspruch nimmt, so daß man manchmal kaum zu Atem kommt, hin und wieder bleibt einem doch ein freies Stündlein, sich umzusehen.
Doch leider muß ich jetzt wieder schließen. Ich habe nämlich Wache, und mein Kamerad draußen wartet sehnsüchtig auf Ablösung. Es regnet in Strömen, und das Postenschieben macht kein großes Vergnügen.
Seien Sie mir herzlich gegrüßt, und grüßen Sie bitte die Kameraden von mir.
Werner
Soldat W. Niederwipper
36458 B.