Hubert Zingsheim an Kaplan Stiesch, 27. Oktober 1940

Reifferscheid, den 27.10.40.

Sehr geehrter Herr Kaplan!

Heute endlich komme ich dazu, auch Ihrer einmal brieflich zu gedenken.

Schon länger als 3 Wochen verbringe ich ein RAD-Mann-Leben. Um von vorneherein bei der Wahrheit zu bleiben, will ich Sie versichern, dass sie mir wie im Fluge verstrichen. Ehe ich zu der braunen Kolonne gehörte, erdbraun, dachte ich immer, die Gleichheit des Dienstes falle einem mit der Zeit auf die Nerven. Dadurch ist schon bewiesen, wie wenig ich mir eine Vorstellung, und zwar eine richtige, von den Tatsachen machte. Von Eintönigkeit keine Spur, denn jeder Tag bringt etwas anderes. Freude wechselt mit Kälte. Froh, für ein paar Minuten die Stuben aufsuchen zu dürfen, heißt’s wieder an die frische, gleich kalte, Luft.

Seit Samstagabend fällt für kürzere Zeitspannen Schnee. Flocken wechseln mit Graupen und Regen, so dass noch nichts liegen bleibt. Unangenehm ist das für unsere Spaten, sie setzen im Nu Rost an. Dann gilt’s wieder, Schmirgel zur Hand und putzen, daß der Schweiß nicht eher zu rinnen aufhört, bis es wieder gleißt.

Ausgang hatten wir bis heute noch keinen. Dafür

müssen wir zuerst vereidigt sein. Am Mittwoch ist es so weit, und wir hoffen alle, nächsten Sonntag gemeinsam ausgeführt zu werden. Mittwochs Samstags und Sonntags nachmittags steht uns Freizeit, in diesem Falle Ausgang, zu. Bis dahin ist es aber noch weit. Dienstag geht’s wieder zur Baustelle. Wo und was wir arbeiten, muß streng geheim bleiben, da wir einer Kriegsabteilung angehören.

Über Kirchgang und andere, noch zu lösende Probleme kann ich heute noch keine Auskunft geben. Alles stürmt auf mich, den Einsiedler, oder besser gesagt, den „Pharisäer“ – Sie entsinnen sich der Nilolausstunde noch? – so stark ein, daß ich Gedanken und Eindrücke noch ordnen muß, um ein vorsichtiges Urteil abgeben zu können.

Im Allgemeinen gefällt es mir hier so gut, daß ich nur Literatur vermisse, um mich wie zu Hause zu fühlen, wenn man solches sagen darf, lieber, wie ein Strohwitwer! In der Ferne.

Moralisch steht das Lager, meinem Urteil nach, auf keiner hohen Stufe. In meiner Stube ist es noch golden, obwohl 3 meiner Kameraden in der Gefahr stehen, Vater zu werden. Einer erhielt vor kurzem die Bestätigung.

Herzlichen Gruß, auch an Ihre werte Familie, von Ihrem dankbaren

Hubert