Kaplan Stiesch an Jochen Soddemann, 20. Juni 1941

Rudolf Stiesch   Köln Bickendorf   Schlehdornweg 1  

20. Juni 41

Lieber Jochen!

Vorgestern war ich mit einem Freund zusammen, der vor etwa 10 – 11 Jahren deutscher Seelsorger in Haarlem war. Ich sprach über unsern Briefwechsel und Deine Eindrücke in Holland. Er läßt heute noch nichts auf Holland kommen. Nun ist die holländische Kultur ja tatsächlich eine des Heimes, des Interieur, wie das in der holländischen Malerei ja sehr sichtbar wird. Und die besten Seiten holländischen Wesens erschließen sich am Familientisch und in ihrer Familiengemeinschaft. Es sind das Gesichtspunkte, die tatsächlich schwer wiegen. Der Freund war lange Jahre in Italien und auf dem Balkan und hat wohl ein urteilsfähiges Auge für ausländisches Wesen bekommen.

Die deutsche Komplet scheint hier nicht einführbar zu sein, jedenfalls nicht im Sommer. Ich habe mehrere Versuche gemacht, immer mit dem Erfolg, daß man mit Mühe und Not 10 Jungen höchstens dafür gewinnen konnte. Nun hat der deutsche Choral tatsächlich seine Grenzen. ich habe immer das Empfinden, daß er von einer sehr großen Zahl von Jungen gesungen werden muß, um überzeugend zu wirken und nicht ärmlich. Also zB bei den Bekenntnisfeiern befriedigt er fast immer, ausserhalb eines solchen großen Rahmens befriedigt er mich selbst nie. Aber im Winter will ich doch noch einmal den Versuch wagen.

Karl Egon und Josef Kann scheinen den mut verloren zu haben, weil die Zahl auf den Heimabenden immer mehr abnahm. Ich habe sie gestern zu überzeugen gesucht, daß solche Kriesen immer wieder auftreten und keineswegs etwa an ihrer eignen Nichtbegabung für die Auflage liegen müssen, wie [sie] selbst meinen.

Es ist eben Ferienluft und das schöne Wetter ist nicht dazu angetan, den Weg in das verfluchte dumpfe Mauerloch unter der Sakristei allzu verlockend zu machen. Ich glaube fest, daß diese Schwierigkeiten nach den Ferien von selbst behoben sind.

Daß der Hauptbahnhof einige schwere Treffer erlitten hat wirst Du schon wissen. Ein grausiges Bild der Fragwürdigkeit unserer Kultur. Kanntest Du den Willi Viehoever aus Klettenberg? Montag war ich zu seinem ersten Jahrgedächtnis.

Hermann Josef Kleinsorg hielt einen gut vorbereiteten Abend über Sparta und Athen als Vorbild unserer Auffassung zu Sport und Leib und Seele und vor allem Vergeistigung alles reinen Bios. War schon auf der Höhe.

Nun wünsche ich Dir alles Gute. Hast Du Rembrandt als Erzieher gelesen? Wäre ja für Deine Situation die gegebene Literatur. Schade, die Museen werden augenblicklich aller bedeutenden Stücke entleert sein. Ich glaube, die Soldaten werden nach Kriegsende die Stätten ihrer Wanderung alle noch mal aufsuchen um ein zutreffendes Bild ihres Wesens zu bekommen.

     Herzlichst