Karl Johann Perl an Kaplan Stiesch (?), November 1941

Berlin – Charlottenburg,

Meiningenallee 13, im November 1941

Lieber Freund!

Ich war zu Ostern in einem kleinen Ort in Kärnten, um dort, im Süden, die heilige Woche ruhig zu verbringen. In der gepflegten Dorfkirche feierte man bescheiden, aber gut und richtig die grosse Liturgie. Am Karsamstag, zeitig früh, bemerkte ich, dass neben mir ein junger Soldat an der Kommunionbank kniete, der anders aussah und sich anders benahm als die Dörfler sonst. Nachdem das letzte Alleluja der Versper verklungen war, und wir in die Sonne hinausgetreten waren, reichte ich ihm die Hand, und wir beglückwünschten uns, dass der Herr erstanden ist. Der Soldat nahm den gleichen Weg wie ich, und ich erfuhr, dass er vor kurzem erst zum Priester geweiht worden und seither als Krankenträger im Lazarett tätig war. Er zelebrierte jeden morgen vor seinem Dienst, bevor es tagte. Ich schenkte ihm ein Buch von mir und sandte ihm dann später noch andere Bücher, denn er klagte sehr, dass er so gar nichts hätte, was ihn äusserlich mit seinem Beruf verbindet.

Nun geht es anderen Theologen ganz anders; ein Kriegsschicksal wie dieses ist von ganz besonderem Glück begünstigt. Allein auch hier war eine Not, die mir sehr viel zu denken gab. Ich bin mit vielen katholischen und evangelischen Theologen befreundet. Einer starb, mehrere sind in Gefangenschaft, viele im Feld, und nur wenige sind, weil sie nicht mehr jung genug sind, im Beruf geblieben, in diesem Beruf, von dem ich immer wieder sagte, er sei der schönste Beruf, den es gibt.

Es mag Berufe geben, die jetzt im Krieg, trotz allem ihren Träger unversehrt erhalten bleiben: der Arzt und mancher Techniker, auch mancher Wissenschaftler sind imstande, genauso eine Unzahl von verschiedenen Arbeitern und Handwerkern, ohne teilzuhaben an dem im Sinne des Krieges liegenden Vernichtungswerk, ihre im Frieden und für den Frieden erwählte Arbeit auch in der Uniform fortzusetzen; freilich in einer gewissen Gesteigertheit, unter andern, vielleicht ungünstigeren Verhältnissen, aber doch jedenfalls so, dass sie an ihrer „beruflichen Substanz“ keine Einbusse erleiden. Sie sind unter Umständen behindert, sind gefährdet, vielleicht auch in ihrer Entwicklung gehemmt, aber das wichtigste, ihr Beruf, ist ihnen gewahrt. Da man im Kriegsbetrieb ihre Tätigkeit nicht und nimmer entbehren kann, bleibt ihnen diese Tätigkeit erhalten. Andere Berufe freilich haben dieses Schicksal nicht, und diese Not erfasst die Mehrzahl aller, die heute mit der Waffe im Feld stehen. Es bleibt die Frage, ob der junge Mensch, den der Ruf der Waffe aus seiner Ausbildung riss, schwerer daran ist als der Mann, der seinen bereits ausgeübten Beruf verlassen musste.

Der eine weiss nicht, ob er eines Tages noch die Kraft, die Zeit, die Mittel hat, um das Begonnene zu vollenden, der andere zweifelt, wenn er kein Beamter ist, ob er schliesslich noch die Fähigkeit besitzen wird, die sein Beruf einstmals verlangt hat, zweifelt, ob sein Platz noch an derselben Stelle ist, an der er ihn verliess…

Bei diesen Ueberlegungen kommt mir der Ausspruch vom „schönsten Beruf“ doch etwas fragwürdig vor. Vielleicht ist dieses ministerium prädicatoris tui, von dem es zu Anfang der Confessiones heisst, erst in letzter Linie „Beruf“; vielleicht ist es etwas ganz anderes. Natürlich wird man immer von einem Priesterberuf sprechen können, und die jungen Theologen wie Sie werden während ihres Studiums die unleugbare Ueberzeugung haben, dass sie in einer Berufsausbildung stehen. Aber im Grunde scheint es doch etwas andres zu sein.

Wir machen gegenwärtig in unserem umstürmten Christentum eine sehr merkwürdige Beobachtung! Wobei vorausgeschickt sei, dass ich persönlich das Christentum gar nicht für bedroht halte; es steht auf einem viel zu kräftigen Fundament, und der Heilige Geist, der es erfüllt, durchweht es mit einem viel zu kräftigen Atem, als dass es auf diese Weise ausgezehrt werden könnte. Den einzelnen Christen wird viel zugemutet, und ein gewisser sichtbarer Teil der Kirche leidet, aber auf das Ganze gesehen, hat das wenig zu bedeuten, doch dies nur nebenbei. Die merkwürdige Beobachtung betrifft die Aktivierung des Laienvolks. Was sich da ereignet – wir wollen heute nicht untersuchen, wer dazu die Initiative hatte, hat und weiter haben wird – was da geschieht, ist so grandios, dass Priester und Gemeinde nur staunen und danken können. Da haben tatsächlich junge Menschen und Erwachsene, die einen dadurch so gefährdet wie die anderen, den Mut und die Aufopferungskraft, einen Dienst, ein ministerium zu versehen, das ihnen in mundo nicht nur nichts einbringt, sondern sie höchstens dem Spott, Boykott und noch weit Schlimmerem aussetzt. Hier baut sich eine neue „Substanz“ auf, deren Anwachsen wir alle voll Bewunderung sehen. Ob das jetzt die halbwüchsigen Jungen sind, die sich die schönste und traditionsreichste Kirche der Stadt aussuchen, um dort zweimal die Woche in vorbildlichster Weise, ganz ohne Teilnahme eines Priesters, die lateinische Komplet zu feiern, oder ob es die Zusammenkunft hochgebildeter und bejahrter Männer ist, die sich um theologische Fragen müht. Dazwischen, was liegt da nicht alles! Das unerhört ernst genommene Gebetsleben in den christlichen Familien und Gesellschaftskreisen, die tätige, aufbauende fruchtbare Teilnahme der Gemeinde an der Gestaltung des Gottesdienstes, der sehr gesteigerte Sakramentenempfang und, nicht zuletzt, das Anwachsen der wissenschaftlichen und erbaulichen theologischen und betont christlichen Literatur.

Es war überspitzt und ich habe es als Spott empfunden, als mir kürzlich ein schwer übernächtigter Priester, der in einem Vortrag über das Gebet des Laien sanft einschlummerte, nachher eingestand: „Wenn die Laien beten, können die Priester schlafen.“ Das war sicher nicht richtig, aber irgendwo, in einer letzten Ecke, hatte er doch recht. Ich möchte nämlich all den jungen Theologen, die heute statt in ihren Konvikten,

Seminarien, Akademien und Klöstern zu lernen, im Felde stehen, das eine sagen: ihr kommt nicht zu spät zurück, das Feld des Friedens wird weiter bestellt, dafür sorgt eine uns ganz unverständliche „Organisation“ des Heiligen Geistes. Nicht so, dass wir jemals der Priester werden entbehren können, davon kann keine Rede sein, im Gegenteil: Wenn Ihr, worum wir täglich beten, einmal zurückkommt, werden Euch Aufgaben erwachsen, grössere, schönere, segensreichere, als Ihr es Euch jemals erträumt habt. Denn Eure „Substanz“, die eben die grosse, allgemeine Substanz des „auserwählten Volkes“ ist, wird eher gemehrt als verringert sein. Das einzige, was nötig ist neben der Erhaltung Eures Lebens, die ja nicht in Eure Macht gegeben ist, die einzige Pflicht, die Ihr gegenwärtig neben Eurer Soldatenpflicht zu erfüllen habt, ist: sobrii estote et vigilate…

Ich weiss sehr wohl, dass man Probleme nicht aus der Welt schafft, indem man ihnen entgeht, dass man Konflikte nicht annuliert, indem man sie jemand auszureden versucht. Ich weiss auch, dass die grösste Hilfe, die der gläubige Mensch besitzt, das Gebet, nicht wie die Medizin durch ein Rezept verordnet werden kann. Probleme sind aber meistens zeitbedingt, Konflikte lösen sich am häufigsten in anderer Beleuchtung, und ein versäumtes Gebet hat fast immer, wenn man es später nachholt, eine umso segensvollere und beglückendere Wirkung. Einem Ungeduldigen Ausdauer zu predigen ist zwecklos; man kann ihm nur sagen, dass man verspricht, seine Sache so lange gut zu verwalten, bis er sie wieder selbst in die Hand nehmen kann. Und das ist das Tröstliche für Sie. Welcher andere Beruf hat diese „Chance“? verstehen Sie mich recht! Kein Laie kann einen Priester ersetzen, denn die „Geheimnisse“ kann und darf nur er „verwalten“. Aber die Geheimnisse pflegen, erhalten, schützen und heilig bewahren; das können wir, und das tun wir, um sie eines Tages in ihrer ganzen Herrlichkeit und Segensfülle von Ihnen zu empfangen. Inzwischen gilt Ihnen unser Gebet, das Gebet der ganzen Christenheit, das noch nie seit den ersten Zeiten unserer Kirche so stark dem Priestertum gegolten hat.

Es soll mich freuen, wenn Sie diesen Brief mit einer kleinen Anteilnahme lesen. Und wenn ich Ihnen auf Fragen oder Bedenken Antwort geben kann, will ich es gerne mit Hilfe des Heiligen Geistes tun. Seien Sie in Christo begrüsst von Ihrem

Karl Johann Perl