Willi Winterscheidt an Kaplan Stiesch, 6. November 1941
6.XI.41.
Lieber Herr Kaplan!
Nun komme ich auch mal wieder dazu, Ihnen zu schreiben. Mittlerweile sind wir weiter nach Osten marschiert und übermorgen geht die Fahrt schon wieder weiter. Hinein ins Ungewisse. Hinein in einen kalten und langen russischen Winter. Meine Feldpostnummer habe ich mittlerweile auch schon 2 mal gewechselt. Meine jetzige Nummer lautet: 40876 E. Wo ich hier liege ist es sehr gefährlich. Täglich fliegen grosse Gebäudekomplexe in die Luft, zum Teil durch von den Bolschewiken noch vor unserem Einmarsch gelegte Sprengladungen mit Zeitzündern bis zu 70 Tagen; zum Teil auch durch Sabotage und Brandstiftung. Weil Letzeres von Tag zu Tag zunimmt, hat der Stadtkommandant vor 3 Tagen 300 Einwohner der Stadt erschiessen lassen mit der Drohung, weitere 600 Einwohner zu erschiessen. Auch sämtliche Juden, Frauen und Kinder (40 000 – 60 000) sind alle erschossen worden. –
„Das Leben eines Menschen ist so billig geworden. Billiger noch als das eines Sperlings“.
Auf Geheimbefehl des Führers muss nun die Stadt von sämtlichen deutschen Truppen geräumt werden. Darum geht es übermorgen auch weiter. Es ist ja schliesslich kein Vergnügen in einem Gebäude zu schlafen mit dem Gefühl, dass der Bau stündlich in die
Luft fliegen kann. Heute Mittag ist in unserem Quartier ein Brand ausgebrochen, den wir allerdings noch rechtzeitig löschen konnten. Wände und Decken waren schon lichterloh am brennen. Zum Glück hatten wir einen Wasserhydranten in der Nähe. Das grausige Bild der Zerstörung, das die Stadt bietet kann ich Ihnen gar nicht in Worten schildern. Als ich das zum ersten Male sah, war ich zu tiefst erschüttert, und unwillkürlich musste ich an die Drohworte unseres Heilandes denken: „Kein Stein wird auf dem anderen bleiben. Alles, alles wird nieder gemacht“. Und dieses Elend und diese Armut der Leute. Ich empfinde es immer als eine stumme Anklage gegen uns. Aber was hätte der Krieg aus unserer deutschen Heimat gemacht, wenn es anders gekommen wäre. Krieg, das hört sich daheim ganz nett an. Man ist begeistert von den Leistungen der Truppe. Aber wie hart und wie schrecklich das alles in Wirklichkeit aussieht, das kann man nicht in ein paar Worten schildern, obwohl ich bei der schweren Artillerie nicht im Einsatz stehe. Ich glaube, die jungen Menschen (ich meine jetzt vor allem die von der Infanterie und Sturmpioniere u. ähnliches) die aus dieser Hölle lebend herauskommen, werden wohl ihr ganzes Leben lang diese Tage nicht vergessen können. Es müsste eigentlich ein gläubiges Geschlecht sein, das aus diesem Krieg hervorgeht. Und dann diese Sorge um die Lieben daheim. Seit 7-8 Wochen habe ich nun schon keine Post mehr bekommen. –
Draussen liegt Schnee! Und in 7 Wochen ist Weihnachten. Mein erstes Weihnachten von daheim fort. Mein erstes Weihnachten ohne Christmette. Meine arme Mutter. Das wird wohl bei Ihr und auch bei mir nicht ohne Tränen abgehen. Wenn Sie Weihnachten in St. Dreikönigen Christmette feiern, dann denken Sie bitte auch mal eine Minute an mich, und denken Sie daran, dass fern im Osten ein Junge steht, der es als das schönste Weihnachtsgeschenk betrachten würde, als Messdiener dort am Altare stehen zu dürfen und Christmette zu feiern.
Heil und Gruss Ihr
Willy Winterscheidt
Viele Grüsse auch an alle anderen Kameraden und an alle Ministranten!