Kaplan Stiesch an Willi Winterscheidt, 21. November 1941
Rudolf Stiesch Köln Bickendorf Schlehdornweg 1
21. November 1941
Lieber Willy!
Heute habe ich Deinen Brief bekommen und er hat uns alle sehr erschüttert. Was ist das ein Blutvergiessen! Und wie viel unschuldiges Blut schreit da zum Himmel. Hoffentlich hat das alles bald ein Ende. Dein Brief war ziemlich lange unterwegs, vom 7. 11. bis zum 21. 11. Das sind genau 14 Tage Laufzeit und danach zu urteilen musst Du ja weit vorn sein, so weit von der Heimat entfernt, wie Du vielleicht in Deinem ganzen Leben es nicht mehr sein wirst. – Nicht ganz verstanden habe ich es, warum Du schreibst, dasz Du die Armut der Leute dort als eine „stumme Anklage“ gegen uns empfindest? Die Schuld trägt doch der Bolschewismus, den wir dort nicht haben verhüten können.
Ich werde Deinen Brief den Meszdienern und den Jungen vorlesen und wir werden Deiner und Eurer im Gebete und Opfer gedenken und vor allem auch in der Mette, die sicher wieder wie im Vorjahr für alle Soldaten gefeiert wird.
Hier waren einige schöne Tage, als Rudi Conin und Jochen Soddemann in Urlaub waren. Jochen verlangte mit Recht, dasz in der Gruppe jeder mehr mitarbeiten müsste: einen Heimabend zB dürfe nicht einer allein vorberietne, sondern alle sollten das Thema des nächsten Abends schon allein durchdenken und bei der Gestaltung mithelfen. Einige Abende der letzten Zeit waren wohl besonders anregend, so einer über Martin Luther, einer über das Thema der Beseitigung des „lebensunwerten“ Lebens. Dieses Thema wird von dem Film „Ich klage an“ gestellt. Augenblicklich wird überall davon gesprochen. Für uns ist es ja klar, dasz wir keinen Unschuldigen töten dürfen, nicht einmal
auf seinen eigenen Wunsch etwa um die Schmerzen der Krankheit abzukürzen. Aber es ist doch gut, dasz man andern Rechenschaft geben kann, die irrige Auffassungen haben. Der wichtigste Einwand gegen diese sogenannte Euthanasie ist wohl der, dasz jedes Vertrauen vom Kranken zum Arzt zerstört wird, weil ja der Kranke nie wissen kann, ob der Arzt ihm zur Gesundheit verhelfen will und kann, oder ob er ihn schmerzlos beseitigen will, weil er sein Leben für „lebensunwert“ hält. Der Fehler steckt schon in der sprachlichen Formulierung. Vom christlichen Standpunkt aus ist auch das Leben des in Schmerzen Kranken doch nicht lebensunwert, wenn es auch zum Beispiel unproduktiv ist. Aber es kann auch ein Strom von Segen für den Kranken selbst und seine Umgebung aus der Krankheit entstehen, durch die Geduld und Leidensbereitschaft und sein stilles Heldentum usw.
Andre Themen der letzten Zeit sprachen von Christus, dem kommenden Herrn der Herrlichkeit (Josef Kann sprach davon). Heinrich Doderer war das Thema eines Abends von Willi Geurtz. Er lasz sehr schöne Proben aus den beiden Hauptromanen vor. Dann hielt ich einen Abend über Wallenstein und den 30 jährigen Krieg.
Weiszt du übrigens, dasz Hubert Gülden auch bei der schweren Artillerie ist? Seine Adress lautet: Kann Hubert Gülden 2 s. a.E.A. (mot) 62 Dortmund Westfalendamm 385. Er ist damit ja gewissermassen Dein Kollege geworden. Er hat auch schon mehrfach geschrieben. Die meisten Briefe bekomme ich zur Zeit von Jochen Soddemann L Lg P A Amsterdam über Bentheim. Wenn Du sonst noch eine Adresse gebrauchst, will ich sie Dir gerne schicken, auch wenn Du sonst gern etwas hättest, was ich Dir besorgen kann.
Nun sei herzlich gegrüszt