Kaplan Stiesch an Josef Kreuser, 14. Februar 1942

Rudolf Stiesch   Köln Bickendorf Schlehdornweg 1

14. Februar 1942

Lieber Josef!

Sei für Deinen Kartengrusz und Deinen schönen Brief recht herzlich bedankt. Ich hoffe, dasz Du Dich inzwischen einigermassen gut eingelebt hast und dasz der Dienst erträglich ist. Am letzten Sonntag sah ich auf einmal wie eine Erscheinung aus einer andern Welt Deinen Bruder Ludwig in der Kirche, den ich einige tausend Kilometer weiter im Osten vermutete. Ich freute mich sehr und da ich meinen Augen nicht traute, ging ich mittags zu Euch, wo mir gesagt wurde und vorgezeigt wurde, dasz die Sache stimmte. Also nach Aachen zur Untersuchung. Ich wünsche ihm nur das eine, dasz er jetzt wenigstens hier im Westen bleiben kann und nicht mehr in den kalten Osten zurückbraucht. – Und der Hans schrieb, dasz er auch wohl in Kürze in Urlaub komme. Da lässt es sich ja vielleicht einrichten, dasz doch eine ganze Reihe der Gebrüder Kreuser zu einem Familientag zusammentreffen. Dann wird der Vater ja froh sein. Er gab dem Ludwig grade Anweisungen, wie er sich verhalten solle.

Hier in der Pfarrjugend war in den letzten Wochen wenig Betrieb. Alles war anscheinend müde und ängstlich vor der allerdings barbarischen Kälte. Nur die jüngste Gruppe ist lebendig, die der Alfons Geurtz jetzt führt, der jüngere Bruder von Willi. Er hat eine tüchtige Klappe und Mut und dieses nur wenigen gegebene Charisma zum Führertum, jedenfalls will es mir so scheinen. Wer diese Gaben hat, der ist zu beneiden. Ihm wird es immer leicht fallen eine Schar von Jungen um sich zu sammeln und zu formen.

Mein schönstes musikalisches Erlebnis der letzten Wochen war eine Aufführung der Messe in d moll von Anton Bruckner hier in der Herz Jesu Kirche. Ich habe hier den Zugang zu Bruckner gefunden.

Der Weg über die symphonischen Riesenschlangen, wie Johannes Brahms die Symphonien Bruckners nennt, ist mir noch verschlossen. Und nachher ein ein wunderbar einfaches Tantum ergo von Bruckner nr 6 phrygisch. Hier spürt man sofort die Echtheit des religiösen Empfindens, ja auch seiner Frömmigkeit, so ähnlich wie in Mozarts Ave verum. Ich habe mir mal die Tantum ergos geben lassen. Der Chor singt sie hier in Dreikönigen ja auch fast alle. Das ist ja eigentlich das gröszte: mit den sparsamsten Mitteln das gröszte, ja das Mysterium, das Unsagbare sagen.

Gestern war übrigens mein Schwager hier und sagte, die Familie Gräff wohne jetzt in Koblenz Josefstr. 7. ich glaube er sagte, sie hätten da jetzt eine Wirtschaft. Wenn Du den Namen meines Schwagers nennst: Walter Esch, wird die Familie wissen, was los ist. Würde mich freuen, wenn Du mal hinkämst. Also die andere Adresse stimmt nicht mehr!

Ausgang habt ihr noch nicht gehabt? Merkwürdig, wie einem das selbstverständliche dann auf einmal wertvoll wird. Man beneidet dann jeden Hund, jedes Kind, das frei auf der Strasse spielen und laufen kann. Jedenfalls ist es mir so im Priesterseminar gegangen, es kam einem vor, als gehörte man zu den Menschen hinter Gittern. Und etwas vom Lebenstil des Soldaten entwickelte sich auch von selbst in einer solch groszen Kommunität. Schon das Verhältnis von Vorgesetzten und Untergebenen ist ähnlich. Man schleicht sich an den Kasten ran, wenn man auf verbotenen Pfaden wandelt uä.

Aber auch manche schöne Erinnerung habe ich an die Jahre. Musikalisch war man verdurstet und daher aufnahmefähig wie ein trockener Schwamm. Da war einer der konnte hervorragend spielen und der spielte Weihnachten, als das erlaubt war, die Appassionata. Diese Stunden werde ich mein ganzes leben lang nicht mehr vergessen. Nie hat mich etwas so sehr gepackt, wie jene Stunden. Wenn wir mal wieder normale Zeiten haben, müssen wir unbedingt den Kaplan mal zusammen besuchen. Er ist jetzt in Düsseldorf an Liebfrauen.