Hubert Gülden an Kaplan Stiesch, 17. Oktober 1942

Im Osten, 17. 10.1942

Werter Herr Kaplan!

Herzlichen Dank zuerst für Ihre Zeilen vom 24.9., die mich nun nach einer Reise von fast einer Woche endlich erreicht haben. Über die Lektüre habe ich mich besonders gefreut, denn inden langen Abendstunden sehnt man sich oft nach einem vernünftigen Lesestoff. Man sagt viel, dass der Soldat im allgemeinen oberflächlich wäre in der Auswahl der Lektüre oder ausschließlich leichtere Sachen, d. s. Kriminalromane usw. bevorzuge, ich kann aber aus eigener Erfahrung gerade das Gegenteil beweisen. Wenn es jetzt schon um 17 Uhr bei uns hier Nacht ist, so nützen wohl Kameraden diese Gelegenheit aus und schnarchen jede Nacht ihre 12 Stunden herunter; ein anderer Teil jedoch, es sind diejenigen, die auch im Krieg noch nicht das Denken und das Grübeln vergessen haben, sitzen bei dem Schein einer Kerze in ihrem Bunker über ein Buch gebeugt und suchen und finden auch in ihm Entspannung von den schweren Stunden des Tages; Bücher wie die „Kriegsbriefe gefallener Studenten oder „Der Wanderer zwischen beiden Welten“, Bücher also, die man nicht als „Schmöker“ bezeichnen kann, findet man immer wieder im Tornister des Soldaten und diese Tatsache müsste den Herren, die das Gegenteil

wahrhaben möchten, eigentlich Gegenbeweis genug sein.

Hier wird es jetzt von Tag zu Tag kälter, denn der kommende Winter hält schon so langsam seinen Einzug. Wir haben uns in die Erde eingebuddelt und uns Bunker gebaut jeder nach seiner Art. Holz haben wir in Hülle und Fülle, denn in der Stadt, vor der wir nun schon fast sieben Wochen kämpfend liegen gibt es genug zerstörte Häuser. Hier sieht man so ungefähr dieselben Bilder wie bei dem großen engl. Angriff auf Köln, vielleicht nicht gerade im selben Ausmaß, denn große Bauten aus Stein findet man hier höchstselten.

Für heute dann recht herzlichen Gruß

Ihr Hubert Gülden