Hans Werres an Kaplan Stiesch, 22. November 1942
Soldat Hans Werres
Feldp.Nr. 46 518
O. U. Sonntag, den 22. November 42
+ Carissime!
Über das Reclamheftchen von Platon habe ich mich – aufrichtig gesagt – sehr gefreut. Mit der Lektüre habe ich schon begonnen, und es hat meine Erwartungen nicht enttäuscht eher noch übertroffen. Dann zu Ihrem Brief:
Ehrlich gesagt: es türmen sich vor mir und es stürmen auf mich so viele Fragen, die früher niemals solche waren, da ich gerne einen, wie Sie oder Jochen um mich oder wenigstens schnell erreichbar haben möchte, jedenfalls schneller als durch die Post.
Ich bin skeptisch, sehr skeptisch auf religiösem Gebiete geworden. Den Anlaß dazu gaben Fragen und Auseinandersetzungen mit Kameraden hier in der Wehrmacht. Da hat man jah-relang Religionsunterricht, war Pfarrhelfer u.a. mehr, hat sich literarisch mit alldem befasst, und glaubt nun im Leben bestehen zu können. Man ist beim Kommiß, hört Einwände von allen Seiten, will antworten entgegnen und kann es nicht. Wozu kommt man: zum Denken.
Gottseidank: Das kann man noch. Sonst wäre auch die letzte Rettung hin! Dahinein Ihr
Brief. Gerade das, was sie über den Zölibat schreiben (sie haben es ganz richtig kurz u. klar ausdrücken wollen) bringt mir noch mehr Unklarheiten und wirft die Frage nach dem Warum noch mehr auf. (Ebenso) Allerdings haben Sie mir danach mit den folgenden Erklärungen Klarheit geschaffen.
Über die frage der Euthanasie nach dem Film „Ich klage an“ hatte ich wiederum eine erregte Diskussion. Zum Schluß war ich fertig – konnte nichts erwidern, als, dass ich mich erkundigen will und gelegentlich „zum Gegenschlag ausholen werde!“ Den üblichen Schluß solcher Diskussionen bildet immer die Einschänkung: „ich will nichts gegen die katholische Religion gesagt haben. Wohl dem, der noch glauben kann, wohl dir, dass du’s noch kannst. Ich kann’s nicht mehr!“ Was so klingt, als wenn man Mitleid mit mir hätte! Das nicht für Ernst genommen werden, das ists, was mich bedrückt und – mich zum Skeptiker machte.
Vielleicht ist es gut so. ich hoffe sogar, dass dadurch mein religiöses Denken an Genauigkeit u. Logik gewinnt. Denken Sie einmal im Gebet + Opfer an mich in dieser Meinung! – Über den Zölibat muß ich unbedingte Klarheit haben. Davon hängt meine ganze Zukunft, mein ganzes Leben ab. Sie müssen wissen, diesen Brief schreibe ich mit meiner Seele; die Fragen packen zutiefst mein Innerstes, es sind wichtige Entscheidungen zu treffen! Sie wissen, was mein Berufsziel ist. Das Priestertum! Ich habe darum gerungen, um Gewissheit zu haben.
Aber die Prüfung scheint jetzt erst zu kommen. Gut so, noch ist es Zeit. Sie wissen, dass es nicht materielle Gründe sind, die mich zu diesem Beruf ziehen. Im Übrigen fallen die ja schon längst weg. Nein, ich hasse sogar eine solche Berufsauffassung. In diesem Ringen hat mir Gott Kraft geschenkt, indem er mir junge Theologen und auch ältere, erfahrene, feine Priester vor Augen stellte, deren Berufsauffassung + Christentum mich begeisterte. Diese meine augenblicklichen Zweifel können diese Begeisterung nicht mehr löschen; sie lassen sie durchahnen wie die Wolken die Sonne. Ich fühle, du musst glauben, es ist so. Doch, wenn die Fragen sich häufen und ich sie nicht zu lösen versuche, kommt dieser Glaube ins Wanken.
Sie wissen also, wie ernst ich diese Frage nehme. Nun will ich die Pflicht des Zölibates nicht so ohne weitere Überlegung auf mich nehmen, ich will mit Verstand und der Kraft des Glau-bens mich dazu durchringen. Der Zölibat bedeutet ein Verzicht. Nun sehe ich bei meinen Kameraden und überall bei Jungen in meinem Alter den Zug zum anderen Geschlecht.
Nur bei mir vermisse ich ihn. Er ist zwar da, aber nur ganz schwach. Ist das etwas Unnatürliches? Was soll ich da tun? Oder kann er noch kommen? –
Schreiben Sie mir einmal die betr. Stellen des Lukas + Matth. Evang., damit ich sie nachlesen kann. Ich habe die Heftchen von Keppler. Meinen Rösch lass ich mir noch schicken. Zum Schluß: Wie mache ich den Zölibat einem Andersgläubigen klar? Ist das überhaupt möglich?
Dann zur Frage der Euthanasie. Nur ganz kurz. Worum es sich dreht, wissen wir ja. Wir können keinen Eingriff in das Leben tun. Das darf nur Gott als der Schöpfer und Erhalter dieses Lebens. Nun behauptet mein lieber Freund dagegen, dieser Gott hat uns das Leben gegeben, damit wir es in der richtigen Weise (wohlgemerkt) ausgleichen, das Gute fördern, Krankheiten aus der Welt schaffen (Ärzte). Warum diese „Erhalten des Lebens“ um jeden Preis diese „Hinauspäppelung bis zur allerletzten Sekunde“, wenn man doch sieht, wie furchtbar + schmerzvoll ein Leiden ist, und wenn der Betreffende es
noch selber wünscht? Ist das nicht grausam und sinnlos? Dann, als ich ihm von der Bedeutung des Schmerzes + des Leidens anfangen wollte, schnitt er mir kurz das Wort ab, das ist ja Quatsch, der Schmerz ist nichts anderes, als das Ausschlagen des Zeigers nach links: Halt, hier stimmt etwas nicht“! – Kommentar überflüssig! Hier mit Ursünde + Erbschuld zu kommen, hätte überhaupt keinen Zweck gehabt! –
Sie sehen, man kann sich nicht genug mit diesen Fragen beschäftigen. Was sie aus meinem Brief vorlesen oder verwerten wollen, können sie ungehindert. Es wird sicher anregend für Abende sein, besonders der Obergruppe. Zum Schluß noch ein kleines Erlebnis als typisches Beispiel für diese meine Erfahrungen.
Am Mittwoch besuchte ich hier einen Bibelkreis des kath. Heerespfarrers. Ich kam leider etwas spät, da ich das Hotel im Dunkeln und wegen meiner mangelnden französischen Kenntnisse nicht finden konnte. Als ich mich abends bei meinem Uffz. wieder zurückmeldete, fragte er, was ich heute unternommen hätte. Ich erzählte ihm, dass ich im kath. Bibelkreis war. Er tat sehr erstaunt, und sagte dann, er verstehe nicht, was die Katholiken mit der Bibel (er meinte spez. das Alte Test.) wollten. Sie hätten sich doch früher nicht um sie gekümmert (!) Ich sagte: Ja,
leider hätten sie sich zu wenig damit befasst. Und wissen Sie auch warum? fragte er mich: weil ein Großteil der Bibel (Alt. Test!) auf dem Index steht (!), die Katholiken also gar nicht lesen dürfen! Das habe ich ihm aber glatt abgestritten (ihn geradezu ausge-acht!) und behauptet, dass wir das alte + das neue Testament vollständig, zwar mit Kommentar der Kirche, aber doch lesen dürfen. Er führte als Gegenbeweis an, dass alle Bibelausgaben entweder gekürzt, oder mit Streichungen bzw. Fälschungen herausgegeben würden. (Schulbibel!) Darauf hin sagte ich, das stimmt insofern, als dass die Schlechtigkeiten des jüdischen Volkes ausgelassen + nur das Heilsgeschichtliche, was für das Neue Test. und damit für den Glauben Bedeutung hat, behalten u. dem Christen zu lesen gegeben werden.* Der Unteroffizier erzählte dann noch, wie er dadurch vom Glauben abgekommen sei. Zum Schluß lud er mich ein, öfters zu kommen und darüber zu diskutieren. –
Damit käme ich endlich zum Ende meines Schriebes. Es steckt so viel persönliches darin, dass ich mich ganz verausgabt habe. Nehmen Sie es nicht übel.
Für heute herzlich Heil Ihnen und den Kameraden
Hans
*Die Kirche hat ja kein Interesse, die Schlechtigkeit der Juden zu bemänteln, also Fälschungen der Art in der Bibel vorzunehmen. Die Abwendung + Verfuchung des Judenvolkes ist Beweis genug dafür.