Willy Winterscheidt an Kaplan Stiesch, 23. November 1942

Ostrow, den 23. November 1942

Lieber Herr Kaplan!

Heil und Gruss Ihnen und allen Kameraden zuvor. Wie Sie gewiss schon am Absender gelesen haben bin ich nun nicht mehr an der Front, sondern liege seit 4 Tagen hier in Ostrow, einem kleinen Städtchen bei Warschau, mit Geldsucht im Reservelazarett. Gelbsucht äussert sich in gelber Färbung von Brust, Gesicht und Augen, grosser Mattigkeit und Apetittlosigkeit, sowie oft starken Schmerzen auf Brust und Leber. Trotzdem bin ich froh, einmal für eine Zeit lang der Front und vor allem dem russischen Winter entronnen zu sein. Nach langer Zeit liege ich nun endlich wieder mal in einem

weissen Bett anstell in einem feuchten, schmutzigen Erdloch. Morgens wird man von einer freundlichen Schwester geweckt anstatt vom Lärm der russischen Kanonen und Granatwerfer. Unter der heissen Brause hat man sich gründlich gesäubert und ist in der Entlausungsanstalt frei geworden von Läusen, Wanzen u. anderem Ungeziefer. Spürt man ein menschliches Rühren, so setzt man sich hier auf ein sauberes geheiztes W.C. anstatt auf einen meist beschissenen und in den letzten Tagen sogar vereisten Donnerbalken. Mit einem Satz gesagt, man ist wieder Mensch. Man kann wieder in Ruhe ein gutes Buch lesen und Radio hören. Wenn man so direkt von der Front kommt, findet man das Leben hier im Lazarett einfach herrlich. Wie lange ich nun hier bleibe, weiss ich nicht.

Wie der Arzt heute sagte, werden alle Kranken, die transportfähig sind, mit dem nächsten Lazarettzug zur weiteren Genesung in die Heimatlazarette über-wiesen. So besteht also auch noch die Aussicht, das Weihnachtsfest in der geliebten Heimat zu verleben. Das wäre zu schön um wahr zu sein. Anschliessend, wenn ich gesund wäre, käme ich dann zum Ersatztruppenteil und dann gäb’ es auch Genesungsurlaub. Hoffentlich wird es wahr.

In der festen Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehn grüsst Sie und alle Kameraden recht herzlich

Ihr Willy Winterscheidt