Kaplan Stiesch an Dieter Sauret, 6. November 1943

6. November 1943

Lieber Dieter! (früher Herr Sauret!)

Dieser Tage rief Deine Mutter am Telefon an und teilte mir Deine doppelte schwere Verwun-dung mit. Da wirst Du ja jetzt schwere Stunden haben mitmachen müssen und ich wünsche Dir vor allem gute Besserung. So sehr ich die Verwundung natürlich bedaure, so kann man vielleicht doch Glück wünschen, dazu, dass Du im Augenblick jedenfalls mal aus der ständi-gen Lebensbedrohtheit heraus bist. Gott wird es alles zum Besten lenken und ich hoffe, dasz das Beste hier in dem Sinne zu verstehn ist, dass Du noch eine lange und gesegnete Orga-nistenzeit zur gloria Die erfüllen wirst.

Hoffentlich bleiben von der Verwundung keine dem Spiel hinderliche Hemmungen zurück. Es ist ja erstaunlich, wie gut im Laufe der Zeit auch schwere Verwundungen heilen. Mein Onkel in Köln zB wurde im ersten Weltkrieg so schwer im linken Arm und Schulterblatt getroffen, dass man um ein Haar ihm den linken Arm genommen hatte. Heute merkt kein Mensch mehr etwas von der Verwundung, er spielt Klavier und alles. Ich vergesse auch nie, wie mir Herr Hilberath, der in Düsseldorf Oberkassel Organist ist, Weltkriegserlebnisse erzählte. Beim Trommelfeuer habe er Arme und Beine eingezogen und sich geduckt damit er nur ja die im Berufe notwendigen Glieder erhielte. So sei er auch verwundet worden im Rücken und der Splitter ist er[st] 10 Jahre später etwa herausgeeitert und entfernt worden.

In meinen Aufzeichnungen stelle ich fest, dass unser gemeinsamer Besuch in Bonn ja schon am 18 August war. Kinder wie die Zeit vergeht. Inzwischen hat hier unser Karl Heinz Hodes eine ganz feine geistliche Musikstunde auf die Beine gebracht: Buxtehude: Prl und fuge D dur. 6 Lieder von Nikol Hasse. Hasse Sonate für Geige und Orgel in D – Händel Sonate für Viol und Orgel in E Bach Choralvorspiele Jesu meine Freude und wer nur den lieben Gott lässt walten

Händel Andante aus dem Orgelkonzert g moll.

Morgen ist eine ähnliche Stunde in St Konrad: Buxtehude Passacaglia in d – Bach Choral-vorspiel Vater unser – Corelli Sonate in d Händel Sonate in E – Bach Orgeltrio Wachet auf – Bach Quintenfuge in g – Bei uns spielte Ilse Michels aus Solinge[n] die Geige morge[n] Wer-ner Neuhaus aus der Musikhochschule.

Hast Du gehört, dass der Karl Robert Kreiten hingerichtet worden ist? Und alle hat das sehr erschüttert. Ich dachte immer nach den Kritiken zu urteilen, dass er wohl unter den jungen Pianisten eine[r] der hervorragendsten wäre. Leider habe ich ihn nie spielen hören. In der Zeitung stand, er habe eine Volksgenossin in ihrer treuen und zuversichtlichen Haltung zu beeinflussen versucht.

Da hätte ich bald etwas vergessen, ich sollte einen schönen Gruss bestellen von einem jun-gen Mann namens Klinkenberg aus Mühlheim. Er hat bei uns die Orgel gestimmt für die oben erwähnte Stunde und dabei auch ein Schloss repariert. Ich habe mich sehr nett mit ihm unterhalten. Inzwischen wird er auch eingezogen sein. Er sprach davon dass er nur noch wenige Tage als Zivilist herumlaufe.

Wie sich doch alles trifft. Die Welt ist gross und der Menschen gibt es diverse, sogar ziemlich zahlreiche und doch erscheint sie manchmal wieder klein. Unser Organist namens Josef Meurer war auch kürzlich in Urlaub. Er erzählte hübsche Dinge, die ihm passiert waren, als er in der Eifel auf einem kleinen Dorf einen Kirchenchor dirigierte. Da habe er mal gegen die sonstige Gewohnheit ein d statt in D in Es angegeben. Prompt hörte er eine Stimme eines Sängers vor sich hinbrummen: „Dat is mingen Ton nicht“

In einem Buch las ich auch eine hübsche Geschichte. Einer war mal in einer ich glaube Tristanaufführung jedenfalls hatte das Cello solo eine längere Melodie im Vorspiel zu spielen. Alles wurde dunkel. Das Cello fing pp an. Plötzlich ruft hinter ihm eine fette Stimme gebieterisch in den Saal hinein: „Lauter!“

So was ist doch nett. Oder von einem andern Dirigenten erzählte der Autor, der immer nur die „alten bewährten Sachen“ (s scharf sprechen nach Art der Hannoveraner) dirigierte von Schütz bis Bach, dem Mozart schon ein gefährlicher Neuerer war und Beethoven gar ungeniessbar.

Die Jungen aus der Pfarre hier haben augenblicklich eine Klampfomanie. Eine ganze Menge haben es gelernt. Öfter sind wir abends zusammen und singen zwanglos in kleinem Kreis. Es gibt sehr feine Sachen, die solche Jungen ansprechen. Ein junger Soldat, dessen Bruder grade gestorben ist, brachte und kürzlich ein „Tscherkessenlied“ bei. Man meint den Atem der russischen Steppe zu spüren. Wunderbar die Melodie und Modulationen in andre Tonarten hinein. Für solche Lieder ist die Klampfe in der Tat das gegebene Instrument. Manchmal wünschte ich mir mal einen Berufsmusiker dazu und sein Urteil. Das [da] brennt nur in der Mitte eine Kerze und es ist eine Stimmung im Raum, die man kaum beschreiben kann.

Ich schicke mit der gleichen Post ein Reclamheftchen. Ich habe dieser Tage wieder neue bestellt und hoff, dass sie bald kommen. Das schönste, das dabei ist, sollst Du gleich haben. Denn als dem verwundeten Ehrenbürger der Nation gebührt Dir ja jetzt ein Vorrang.

Ich hoffe, dass Du infolge der Verwundung auch einen ausgiebigen Heimaturlaub bekommst, bzw. dass Du als Muskote unbrauchbar zum Orgelspielen abgestellt wirst. Das wäre fein! Und dann sehen wir uns wieder und fahren nach Bonn und so weiter und l[a]uschen den dorischen Toccaten. Eigentlich müssten wir in den übrigen Tonarten selber Tocccaten komponieren, die der dorischen die Schuhriemen aufzulösen würdig sind.

Ich hoffe, dass Du nicht im Ernst meinst, das sei mein Stil! In einem Buch fand ich eine Sammlung von solchen Stilblüten die ich Dir mal beilege. Ich hoffe, dass Du drüber lachst ohne gekitzelt zu werden.

Hier ist sonst noch alles beim alten. In Bickendorf haben wir ja im allgemeinen ein unverdien-tes Glück gehabt, was Bomben angeht. Eben hörte ich grade, dass das Josefshospital in Düsseldorf zerstört sei und der Rektor Freudenberg leider unter den Toten sei, dieser war unter den Kaplänen einer der besten Pianisten. Noch einer ist in Düsseldorf namens Schiffels, der über dem Durchschnitt gut spielt. Grade diesem verdanke ich das Ersterlebnis vieler Klavierkompos[i]tionen: zB Appassionata und andre Beethoven, Hayden, Mozart Sonaten. Dann auch manche Kompos[i]tionen von Weber und Chopin habe ich von ihm zu erst gehört. Ich vergesse nie, wie ich zum ersten Mal eine Ballade von Chopin hörte. Ich bedaure nur immer, dass man nicht so begeisterungsfähig bleibt wie man es damals wohl war. Nun lag es auch daran, dass sonst im Seminar nicht musiziert wurde. Dadurch war man für Musik so aufnahmefähig, wie ein trockener Schwamm für Feuchtigkeit. Das konnte mich gradezu aus dem seelischen Gleichgewicht bringen wenn ich da etwas so schönes hörte.

In steter Herzlichkeit grüsst Dich Dein

Vor allem Gute Besserung!