Hans Peter Mülfarth an Kaplan Stiesch, 19. November 1943

Süchteln, den 19.11.43

Lieber Rudi!

Es wird nun langsam Zeit, daß ich Dir ein Lebenßeichen von mir gebe. Die neuen Eindrücke bei den Soldaten sind eben so gross, daß man keine Zeit hat, sich auf sein „Vorleben“ zu besinnen. In meinem jetzigen Aufenthaltsort hat man mir aber reichlich Zeit gegeben, über die Schlechtigkeit der Welt im Allgemeinen und über meine eigene Unzulänglichkeit im Besonderen nachzudenken. Das Resultat ist kläglich. Dieses liegt nun wohl wieder weniger an der Fülle des Materials, als an der Kapazität meines geistigen Strohes. Damit komme ich nun auch auf meinen hiesigen Aufenthaltsort zu sprechen. Vorausschicken möchte ich, daß die Wahl meines

nunmehrigen Domizils nicht nach eigenem Ermessen geschah.

„Ich kam, sah und war erschlagen.“ Ich kam von Emmerich, wo ich bei den Landesschützen sehr nette Kölner Kameraden fand. Der Dienst war wohl nicht allzuschwer, jedoch klappte ich zusammen. Dann hatte ich das Pesch, daß ich bei der Blutentnahme 2x und bei Fliegeralarm nochmals meinen Nervenanfall bekam und daraufhin wurde ich nach Düsseldorf ins Lazarett verwiesen. Mittags 12.00 von Emmerich und abends gegen 9.30, nachdem ich mich bei Fliegeralarm im Dunklen, unbekannten D’dorf verirrt hatte, kam ich im ausgebrannten Lazarett an. Dort wusste man zuerst nicht, wohin mit mir. Dann räumten die Unteroffz. mir in einem Saal, der weder Fenster noch Türen hatte ein Bett mit 2 Decken ein. Geschlafen habe ich trotz dieser liebevollen Fürsorge nichts, denn es war kalt.

Morgens gegen 6.00 bin ich dann, diesmal dem eigenen Trieb gehorchend, aufgestanden und bin einsam und allein durch die Hallen gewandert, durch die der bekannte Wind wehte. In mir weh-mutete auch etwas. Dieses „In sich Gekehrte“ wurde gegen neun Uhr von einer mitleidigen Schwester unterbrochen, die den armen Landser mit einigen „Butter“broten, deren Aufstrich mir bis heute noch Rätsel aufgibt, und einer Tasse „Negerschweiss“ erfreute. Statische Berechnungen brauchte ich keine anzustellen, ich konnte mir im Gegenteil auch als Laie ausrechnen, daß die Tragfähigkeit des Grundmaterials eine weit höhere Belastung aus Feinschicht hätte vertragen können.

Es war wohl inzwischen 9.30 geworden. Nachdem ich mich nun durch eine Wartezeit von einer weiteren Stunde auf kommende Leiden in Geduld geübt hatte, gab mir der dort inzwischen eingetroffene Arzt eine Ueberweisung an das Res.Laz. in Süchteln,

wo ich nachmittags gegen 4.00 eintraf. Soweit das Kommen. Nun sah ich Verschiedenes. Vorerst mal die einzeln stehenden Häuser des Ris. Laz., dann am Tore das Wort „Anstalt“, bei dem es mir kalt den Rücken heraufkroch. In der Aufnahme fragte ein freundlicher Stabsarzt nach Verschiedenem und wurde ich daraufhin einem Sanitäter übergeben, der mich zu einem der Häuser führte. Dort angekommen, wurde die Türe aufgeschlossen und nach unserem Eintreten hinter uns zugeschlossen. Ich erwartete nun als Nächstes, daß man mir die Skalplocke kahl schor und man mir beim geringsten Anzeichen einer inneren Auflehnung eine ausreichende kalte Dusche verabreichte. Aber nichts dergleichen kam. Wir betraten einen Saal, in dem ungefähr 50 Soldaten sassen, die sich mit Leser, Schreiben e t c beschäftigten. Nach Allem, was voraufge-

gangen war, lieber Rudi, kannst du es mir nicht für Übel nehmen, wenn ich erwartete, daß bei meinem Erscheinen diverse von der Gesellschaft schnatternd und kreischend an den Gardinen hochgefahren wären und hätten mir aus luftiger Höhe schwer nachahmbare Grimassen geschnitten. Mein Vorsatz, in diese zu erwartenden Naturlaute – und Gesten einzustimmen blieb unausgeführt, da alle Anwesenden sich gesittet benahmen. Nach einer gegenseitigen Beschnüffelung – siehe Brehm’s Tierleben – „Woran erkennen sich Säugetiere einer Gattung“ musste ich feststellen, daß es sich um kranke Menschen handelte, die mehr oder weniger unter Anfällen epileptischer Art zu leiden hatten. Sie sagten mir, daß sich das Tor nur für unsereinen öffnete in Begleitung eines Sanitäters oder zur Entlassung.

Seither rechne ich mich zu den Erschlagenen.

Lieber Rudi/ Du kannst mir wohl jetzt nachfühlen mit welchen Gefühlen ich hier meine Tage verbringe. Irgendwelche geistige Betätigung gibt es hier nicht. Schlafen kann ich wegen meines Rheuma wenig. Die Sorge um meine Frau und Kinder gibt mir keine Ruhe. Hier werde ich kranker, wie ich vorher war. Wenn ich nicht das feste Vertrauen hätte, daß unser Herrgott die Meinen in seinen Schutz nähme, ich glaube, ich würde tätsächlich tiefsinnig. Hoffentlich kann ich das Weihnachtsfest mit meinen Lieben zu Hause feiern. Lieber Rudi, denke in hl. Messe mal an mich.

Grüße Deine Eltern herzlich von mir und nimm meinen besten Dank für die Zig.. Auch bitte ich Dich den Meinen viele Grüße zu bestelle. Bis auf ein baldiges Wiedersehen Dein

     Hans Peter