Jochen Soddemann an Rudolf Stiesch, 3. Dezember 1944

Aus Hans Carossa: “Verwandungen einer Jugend”

… Was edlere Jugend, ob reich oder arm, sich im stillen wünscht, ist entweder dämonisches Eigengeschick oder die Mitwirkung an etwas Gewaltigem, das außerhalb ihrer liegt. Aufbauen würde sie oder ein Gefährdetes retten; in jedem Fall will sie Opfer bringen…“

       Im Advent 1944, 3.12.

Lieber Rudolf!

Einen langen Umweg hat Dein Brief vom 22. Oktober gemacht, bis er dieser Tage in meine Hände gelangte. Hab nun am ersten Sonntag im Advent meinen herzlichen Dank dafür.

Was all die Briefe von Daheim, auch der Deine, berichten, kann uns ganz sicher nur annähernd ein Bild all des Grauens und der Not geben, die über die

Heimatstadt gekommen. Wir, die wir nicht mitten darin stehen, können das nie so ermessen.

Ist die Hoffnung und der Ruf nach Erlösung, wenn auch zunächst vom Kriege, also im irdischen Bereich, je größer gewesen als in unseren Tagen?

Und wenn uns in R. Schneiders Versen der tiefe Sinn unserer Tage sich erschließt, spüden wir dann nicht auch jene tiefere Sehnsucht nach dem kommenden Reich Jenes „ganz Anderen“ und seinem Frieden.

Ihr feiert Advent vielleicht in ganz kleinem Kreise diesmal, da die Menschen aus der Heimatstadt fliehen mussten. Doch darum bitten wir alle Euch: Findet sein Geheimnis und damit ein Geheimnis des menschlichen Herzens – das Harren auf Gott – noch tiefer zu erfahren, nicht zuletzt für uns alle mit, damit der Gemeinschaft darauf die große Freude

der Heiligen Nacht erwachse.

Es ist, als wollten wir alle uns zum Advent zusammenfinden: Nach Monaten des Wartens habe ich nun Nachricht von allen in unserem Schriftkreise.

Johannes hat Dich wohl einmal bei seiner „Dienstfahrt“ nach Köln besucht?

Werner, jetzt von der Luftwaffe zu den Pz. Pionieren versetzt, liegt unmittelbar in meiner Nähe, in Konnenz; auch Rudi nicht weit von mir, in Wolfen.

Josef Keuser gibt eine kurze Nachricht, daß er selbst näher zur Front versetzt wurde und daß seit längerem jede Nachricht von seinem Bruder Hans fehlt. Ist das nicht furchtbar, Hans wäre dann der vierte, der draußen bleiben müsste?

Eben kommt die Post: Nachricht von Daheim vom 26. d.M. Am 27. war wieder ein großer Angriff, und nun bin ich wieder mal in mächtiger Sorge. Mutter bemüht sich immer wieder, noch Sachen aus Köln hinaußubekommen und begibt sich deswegen immer wieder neu in Gefahr. Ich meine, daß die Sachen das gar nicht wert sind. Auf der anderen Seite ist die Trennung von aller Habe natürlich gerade unseren Müttern unendlich schwer.

Ich bin heute soweit, daß ich mich von allem äußeren Besitz frei gemacht habe: es genügt, wenn wir unser Leben und unseren Glauben durch diese Zeit hindurch retten können.

Dir und den Jungen wünsche ich trotz allem ein gotterfülltes Schreiten durch den Advent ins Geheimnis der Heiligen Nacht.

     Dein Jochen.