Gisbert Kranz an seine Mutter Berta, 14. Oktober 1939
den 14.X.39.
Meine liebe Mutter!
Nun ist doch alles ganz anders gekommen, wie wir es erhofft hatten. Mein Gesuch um vorzeitige Entlassung ist abgelehnt worden, und so habe ich das Glück noch einige Wochen – oder Monate ? – hier zu bleiben. Ich hatte auch kaum an eine Genehmigung des Antrages geglaubt, wollte jedoch nichts unversucht lassen, mein Studium beginnen zu können. Dies Jahr werde ich nicht mehr dazu kommen. Man kann jetzt keine Pläne mehr von heut auf morgen machen. Alle Zukunftspläne sind an Bedingungen geknüpft und setzen Umstände voraus, die gerade in dieser unsteten und unsicheren Zeit meist nicht eintreffen. Die futuristischen Kondizionalsätze müßten aus den Grammatiken gestrichen werden. – Nun bist Du sicher enttäuscht und verbittert, daß ich vorläufig noch nicht nach Hause kommen kann. Wir leben in außergewöhnlichen Zeiten, in denen unsere alten Lebensgewohnheiten und manche neuen Wünsche für die Zukunft an den Nagel gehangen werden müssen, Zeiten, in denen wir auch außer-
gewöhnliche Opfer bringen müssen. Mir scheint, daß Du in letzter Zeit zaghaft und mutlos geworden bist. Andere Mütter sahen ihre Söhne nie mehr, sie hatten eines Tages die Nachricht von dem Heldentode ihres Sohnes in der Hand. Und ich bin weit ab vom Schuß, und Du beklagst Dich, daß wir nicht gleich in Urlaub kommen. Die Arbeiten hier sind so dringend, daß nur ein halbes Dutzend jede Woche in die Heimat fahren kann. Und die ganze Abteilung will in Urlaub ...!
Das Wetter ist herbstlich. Der Sturmwind zaust die [.?.]ben Blätter von den Bäumen und wirbelt das Laub durch die Luft. Wolken jagen dahin, und zwischen ihnen hindurch wirft die Sonne helle, forteilende Flecken auf die Landschaft. Jede Nacht regnet es ununterbrochen, und es ist kein Vergnügen, am nächsten Tage im völlig aufgeweichten Boden zu arbeiten. – Unsere Abteilung arbeitet jetzt drei 12 stündige Nachtschichten hintereinander. Bunkergießen. Eine Arbeit, die – nur von kurzen Essenspausen unterbrochen – rastlos vorwärtseilt; die man nachher in den Kochen spürt. In Tagschicht habe ich das auch schon gemacht. Ich bin aber froh, daß ich nun bei den wenigen bin,
die weiter zur alten Baustelle gehen. Es ist nicht erhebend, bei Nach, Kälte und strömendem Regen schwere Arbeit zu verrichten. Obendrei habe ich heute wieder Wache. Das ist eine ganz geruhsame „Kugel“, zumal die Posten sechs Stunden nachts schlafen können. –
Willi Lohne schrieb mir. Er ist vor sieben Wochen von Wiesel bei Cleve nach Aachen gekommen und sofort der Wehrmacht eingegliedert worden. (die ganze Abteilung geschlossen!); sie tragen Seitengewehr und die bek. gelben Armbinden und erweisen den milit. Gruß. Von der Art seines Einsatzes durfte er nicht schreiben. –
Morgen ist Sonntag. Ich will versuchen, zum Gottesdienst zu kommen, an dem ich schon 10 Wochen nicht mehr teilgenommen habe. Dort will ich mir Kraft holen.
Sprich tapfer Dein Fiat, liebe Mutter!
Es grüßt Dich in Liebe
Dein Gisbert
Viele Grüße an
Vater u. Karlh.
Nb. Meine alte Armbanduhr schicke mir b. wieder zurück!
Schickt mir welche von den neuen Danzig-Gedenkmarken (beide Werte!)