Gisbert Kranz an seine Familie, 10. August 1940

Bonn, den 10.VIII.40.

Meine Lieben!

Eigentlich hatte ich mir ja vorgenommen, während meines Fabrikarbeiterdaseins keine Briefe zu schreiben, einmal, weil ich glaubte, die Zeit dazu fehle mir, dann aber auch aus dem ganz realen Grunde, weil ich meinen Federhalter entbehre. (übrigens entbehre ich ihn wirklich, und ich bitte Vater, ihn mir doch zuzuschicken, wenn er bald repariert ist.) Ich kann ihn jetzt doch gut brauchen, da ich doch noch genügend Zeit finde, meine Korrespondenz zu erledigen.

Zunächst danke ich für Eueren lieben Brief. Karlheinz hat recht, wenn er bemerkt, mein Gedächtnis lasse nach, doch hat das nichts mit dem Hippenschwanz zu tun, sondern liegt eher an dem stur-blöden Arbeiten im Werk. Sollte die Sache in O. doch noch stattfinden, so wünsche ich ihm alles Gute. Augenblicklich ist hier im Kasten eine Jugendwoche, die zweite, die ich hier miterlebe. Wir essen nämlich abends mit den Jungens zusammen, und auch an ihren abendlichen Feierstunden nehme ich teil. Es war eine große Freude für mich, diese frischen Jungen zu sehen und den Geist, der unsere junge Kirche beseelt. Augenblicklich sind hier auch 4 Jungen aus Steele. - - Angenehm überrascht hat mich die Verleihung des Westwall-Ehrenzeichens. Ich bin wirklich froh darüber u. kann es gerade jetzt gut gebrauchen.

Nun wollt Ihr etwas von meiner Arbeit erfahren. - - Das Werk, in dem ich beschäftigt bin, ist noch im Entstehen begriffen. Es produziert noch nicht. Doch stehen jetzt schon gigantische Anlagen auf einem Gelände von ungeheuerem Ausmaß, ähnlich Krupp in Essen. Allein die Eisenbahn des Werkes hat einen Schienenstrang von 28 Kilometer. Das Werk soll zur Gewinnung von Treibstoffen aus Braunkohle dienen. Vaters Vermutung war also falsch.

Hier im Leoninum wohnen wir zu 9 Schwerarbeitern. Morgens um 6 Uhr stehen wir auf, Dienstags u. Freitags eine halbe Stunde eher zur Messe. Um 7 Uhr beginnt die Arbeit, die im Freien stattfindet (Erdbewegungen, Kabellegen u. a. m.), was sehr günstig ist: Wir werden jeden Tag um einen Schein dunkler. Die Arbeit ist zwar schwer, aber erträglich, da wir sie schon aus dem RAD gewohnt sind. Wir arbeiten mit

Holländern, Slowaken u. Juden zusammen. Mir scheint, daß der größte Prozentsatz der ungeheueren Belegschaft aus Holländern besteht. Augenblicklich arbeite ich unter einem holländischen Vorarbeiter. In den Pausen u. auch während der Arbeit unterhalten wir uns mit den Holländern, was ganz leidlich geht. Viele von ihnen waren Soldaten (z. b. U-Boot-Matrosen), manche waren auch schon vorher in diesem Werk tätig. Bei der Unterhaltung mit den Holländern erfährt man allerhand Interessantes und man bekommt neue politische und soziale Erkenntnisse. Im einzelnen davon zu schreiben, würde zu weit führen. Im allgemeinen ist eine große Erbitterung und ein letztes Hoffen auf England festzustellen. Im übrigen haben alle eine Stinkwut auf die britische Treulosigkeit. Auf die Frage, ob sie (die Holländer) lieber zu Deutschland gehören oder selbständig bleiben wollten, antworteten manche: Jenachdem, wo wir mehr verdienen. Ubi bene, ibi patria. Weiter ist eine hohe Achtung von unsern Stukas zu bemerken.

Um 5 Uhr machen wir gewöhnlich Feierabend, Samstags schon um 12. Zu Hause stellen wir uns zuerst unter die kalte Brause. Um 7 Uhr ist Abendessen, danach pflege ich noch etwas zu lesen, wenn ich es nicht vorziehe, einen Spaziergang zu machen. - - Für die Stunde bekommen wir 66 Pf. voll ausgezahlt, ohne Abzüge! Das macht bei 9 Stunden pro Tag in der Woche 30 Mark, ein anständiges Geld. Das Mittagessen (gut u. reichlich) kostet nur 50 Pf. (Großer Speisesaal; Wie alle Einrichtungen für die Belegschaft modern und stilvoll ausgestattet). Die Verpflegung im Leoninum kostet pro Tag 50 Pf. Das zweite Frühstück nehmen wir uns von hier immer mit. Was die Lebensmittelkarten angeht, so brauchen wir für die Verpflegung in der Werksküche nur 100 Gramm Fleisch-, 50 g Fett- u. Nährmittel- u. Brotmarken abzugeben. Dabei besteht jedes Mittagessen aus Suppe mit zwei Brötchen, Kartoffeln, Gemüse u. Fleisch. Dazu können wir ein Glas Bier zu 10 Pf. trinken. Unser Rendant im Kasten fordert auch nicht viel Marken, sodaß mir noch ganz beträchtliche Streifen übrigbleiben. So bleibt mir von dem Tagesverdienst von 6 Mark noch ein Reingewinn von mindestens 4 Mark. Alles in allem werde ich in den 3 Wochen einen Reingewinn von rd. 80 Mark erzielen. Dieses mein erstverdientes Geld werde ich fast ausschließlich für Bücher ausgeben.

Übrigens sprach unser Dekan von einer Verlängerung der Ferien bis zum 15. Sept. Es sei sehr unwahrscheinlich, daß das Trimester schon am 2.IX. beginne. Hoffentlich! Dann hätte ich

noch mehr als zwei Wochen Ferien. - - Nächsten Sonntag will ich Dresens Einladung nachkommen u. mal nach Siegburg fahren. Ich bin froh, daß ich den Fahrradschlüssel wieder habe.

Ein Vorhänger, wie Karlheinz ihn wünscht, ist hier in jedem einschlägigen Geschäft erhältlich. In Essen wird doch sowas gewiß auch zu kaufen sein.

Mit den Anzügen habe ich genug. Zur Arbeit trage ich nur die alte Hose und die braune Kletterweste, die ich bei der Arbeit natürlich ausziehe. Abends ziehe ich mich natürlich um. Also nur keine Angst! Der alte blaue Knickerbocker-Anzug wäre mir bei dieser Hitze viel zu warm.

So, nun Schluß! Fritz u. Karlheinz wünsche ich für die Ferien Freude und Sonne. Euch alle grüßt herzlich

Euer Gisbert

NB. Insgesamt arbeiten auf unserm Werk 300 Studenten aller Fakultäten. Ich habe schon eine ganze Reihe kennengelernt.

Nb. Wir hatten schon mehrmals Nachtalarm, an den wir uns aber nicht stören. –

Reckers ist in Ferien.