Gisbert Kranz an seine Familie, 25. Dezember 1943

Weihnachten 1943

Meine Lieben!

Gestern, am Hl. Abend, erhielt ich Vaters Brief und heute den von Mutter. Ich bin froh, nach längerer Pause wieder Nachrichten von Euch erhalten zu haben. Am meisten freut es mich, daß Karlheinz daheim ist (nur weiß ich nicht, wielange sein Urlaub dauert). Daß ich die Weihnachtspakete noch nicht erhalten konnte, ist gewiß sehr bedauerlich, aber die Hauptsache ist doch, daß die briefliche Verbindung wiederhergestellt ist. Ich danke trotz des Mißgeschicks Mutter für ihre Mühe u. Liebe, mit der sie die Pakete fertiggemacht hat. Erstaunt bin ich, daß zwei lange Briefe, einer an Karlheinz und einer an Mutter, in der ich sie zum 50. Geburtstag beglückwünschte, bei am 13. von hier abgeschickt, noch nicht angekommen sind. Ich denke aber, daß sie inzwischen in Euren Händen sind, sodaß Ihr bereits Antwort auf Eure Fragen habt. Danken muß ich Euch für die Bücher, vor allem gilt mein Dank Fritz, der sie liebenswürdigerweise besorgte. Ihr braucht sie mir aber nicht zuzuschicken, da ich genügend Lektüre hier habe. Überdies nenne ich das Buch von Simoneit, Unsterbliche Soldaten, bereits mein eigen. Ich schenke es daher weiter an Karlheinz; so bin ich wenigstens in der Lage, ihm ein Weihnachtsgeschenk machen zu können. – Weiter danke ich Vater für das Geld. Die beiden Überweisungen von 50 M habe ich bis jetzt noch nicht erhalten. Und für die im Brief geschickten zehn Reichsmark kann ich mir hier nichts

kaufen, und wechseln lassen kann ich es auch nicht. Es ist ein Vergehen gegen die Devisenbestimmungen, deutsches Geld hier bei sich zu tragen. Schickt mir also keine Reichsbanknoten oder Kreditscheine mehr, sondern nur noch Geld auf Feldpostanweisung. Ich bitte Vater, mir Anfang Januar auf diesem Wege abermals 50 M zu schicken. Mehr kann ich mir monatl. nicht überweisen lassen, aber ich brauche das Geld, da hier alles sehr teuer ist. Auch bin ich so in der Lage, Euch noch das eine oder andere zu kaufen. So schickte ich Euch gestern ein Päckchen mit Bohnenkaffee. – Noch ein Hinweis für Mutter: Deinen Brief bekam ich dadurch nicht schneller, daß Du ihn mit Luftfeldpostmarken frankiertest. Meine Einheit ist nicht am Luftfeldpostdienst angeschlossen. Die Post läuft ohnehin nur 4 Tage. –

Die Festtage verlaufen für mich recht still, nachdem die sacralen und weltlichen Feiern bereits vorweggenommen worden sind. Am Heiligen Abend saß ich mit den Leuten meines Werkes bei einer Flasche veritablen Benediktiners zusammen. Später las ich in Hölderlins Hyperion. Ich fühle mich diesem Geiste sehr verwandt. Welch Hymnus ist das auf alles, was groß ist in der Welt! Die Schönheit der Natur, Liebe, Freundschaft, Kampf – das alles feiert er in erschütternd schönen Worten. – Um die Mitternachtsstunde der Heiligen Nacht hatte ich Stellungsdienst. Es strahlte ein herrlicher Sternenhimmel, und das Meer leuchtete zauberisch schön mit phosphorischer Brandung. Diese Naturerscheinung habe ich schon lange nicht mehr beobachten können. Ich entsinne mich 1932 auf einer nächtlichen Schiff-Fahrt zwischen Neuharlingersil und Wange vorge[=?] Meeresleuchten gesehen zu haben. – Nach meinem

Streifengang besuchte ich die einzelnen Werke, traf aber nur wenige von den Leuten an. Die meisten saßen in der Kantine, wo es allerhand zu trinken gab. Ich verzichtete darauf und zog es vor, mich schlafen zu legen, nachdem ich noch die Weihnachtsliturgie gelesen hatte.

Heute vormittag Arbeit an meinem Manuskript, das ich bald abgeschlossen habe. Nachmittags Lesen, Christstollen und abends Euer Brief. Gleich nachdem ich ihn gelesen hatte, mußte ich auf Streife gehen, von der ich soeben zurückgekommen bin.

Es ist stockfinstere Nacht, kein Gestirn am Himmel, dichter Nebel. So recht, um mich meinen Gefühlen hinzugeben. Die Nachricht vom Tode Herbert Weises hat mich tief erschüttert. Wo bleibt ihr Gefährten meiner Jugend? Die mir am teuersten waren, sind tot: Rudolf Stricker, Alfred Deuter, Willi Wessendorf und nun Herbert Weise. Ich hadere mit dem Schicksal, wenn es mir den Einen, der mir noch blieb, und den ich in Gefahr weiß, wenn es mir diesen auch noch nimmt. Es ist bitter, Mutter, wenn man so einen nach dem anderen fallen sieht, und immer gerade die Besten, die, von denen man sagen kann, daß sie zu den ganz seltenen Menschen gehören. Deuters Tod werde ich nie verschmerzen. In ihm begegnete mir der edelste Mensch, die reinste Verkörperung meines Ideals. Ich lebte ein Jahr nahe mit ihm zusammen, und dieses Jahr war das glücklichste meines Lebens. Wären wir nicht so früh auseinandergerissen worden – er hätte mein Freund werden können, er war es ja fast. Ich liebte ihn, den Herrlichen, den Be-

scheidenen, den Sonnigen. Er war so frei, so heiter und gelöst, daß mein unruhiges Herz gerne bei ihm ausruhte und sich an der stillen Schönheit seiner Seele erbaute. – Herbert Weise war das entschiedene Gegenteil davon. Du sagst es richtig, Mutter, er war ein unruhiger Geist. Sein Schicksal hatte mich stark bewegt, und gerade jetzt, wo sein kurzes Leben vollendet ist, spüre ich heftig seine Tragik. Ich hoffe, er wird die Ruhe der Seele gefunden haben. Gott, den er ringend suchte, wird sein gequältes Leben nicht verwerfen, auch wenn es irrte. Ich habe keinen Menschen gekannt, der so tief gelitten hat wie er. – Längst verschlossene Kammern meiner Erinnerung werden aufgerissen. Er war der einzige Sohn seiner Eltern. Ich war die ganzen acht Jahre auf der Schule mit ihm zusammen. Als Sextaner schon erschien er uns als Sonderling und wurde der Prügeljunge der Klasse. Allen geistig weit überlegen, in jedem Fach Primus, dabei von schwächlicher Konstitution und äußerst gereizten Wesens, forderte er uns geradezu zum Kampf heraus. Und wir quälten und peinigten ihn mit der ganzen rabiaten Roheit, deren Jungen in den Flegeljahren fähig sind. Mancher widerlichen Szene entsinne ich mich, und oftmals habe ich ihn herzzerbrechend weinen sehen. Wir waren damals gefühllos für solche Tränen und hielten sie höchstens für raffinierte Ablenkungsmanöver oder primitive Äußerungen des Selbstbehauptungstriebes, weshalb sie uns nur noch stärker zum Angriff reizten. Ich schäme mich, damals bei diesen Raufereien und Quälereien mitgemacht zu haben und leistete Herbert in späteren Jahren, als ich schon zur Universität ging,

Abbitte. Ich weiß nicht mehr, welche Antwort er mir gab, doch wird er mir wohl verziehen haben. Denn wir sind uns später recht nahe gekommen. – Etwa in Sekunda, als wir langsam ernster wurden, ließ man Herbert in Ruhe. Doch den Namen, den wir ihm schon in Sexta gaben und der sein ganzes Wesen trifft, behielt er: Zappel. Er blieb einsam. In der Klasse hatte er keinen Freund, ob er sonst einen hatte, weiß ich nicht. Die einzigen, mit denen er in den letzten beiden Jahren unserer Schulzeit häufiger verkehrte, waren Willi Lohne (der uns allen an Reife und Alter voraus war) und ich, die beiden Theologen der Klasse. Oft waren wir in stundenlange Gespräche vertieft, die religiöse und vor allem philosophische Probleme zum Gegenstand hatten. Doch auch die schöne Literatur und die Kunst beschäftigten ihn sehr. Ich staunte oft über seine Belesenheit. Er beherrschte mehrere Musikinstrumente, und im Zeichnen wetteiferte ich mit ihm. Mathematik und Naturwissenschaft interessierten ihn ungemein, seine Kenntnisse auf diesen Gebieten waren erstaunlich. So hielt er uns einmal einen einstündigen Vortrag über die Welteislehre Hörbigers, von dem die wenigstens etwas verstanden hatten. Bei meinen Besuchen zeigte er mir in seiner Kammer ein astronomisches Fernrohr, das er selbst konstruiert und gebaut hatte, und oftmals saßen wir abends zu zweit über Mappen mit alten Kupferstichen gebeugt. Er schwankte, ob er Musiker oder Physiker werden solle. Eine so vielseitige Begabung findet man heute kaum noch. –

Über seine Weltanschauung war er sich selbst nicht klar. Er schwankte zwischen Gegensätzen und rang

leidenschaftlich um Erkenntnis. Seine Eltern sind Nationalsozialisten (der Vater ist Ingenieur), er selbst lehnte es ab, einer zu sein und übte bittere Kritik an den Erscheinungen unserer Zeit. Rosenberg erklärte er für undiskutabel. Nietzsche kannte er. Ob er Einfluß auf ihn hatte, glaube ich kaum. Stark schien er mir von Chamberlain beeinflußt zu sein, auch Ernst Jünger wirkte auf ihn. Er liebte Beethoven, doch Bruckner lehnte er als katholisch ab. –

Nach dem Abitur kam er nicht zum Studium, ich glaube, weil ihm die Geldmittel fehlten. Er gab Musikstunden und machte sein Musiklehrerexamen, war später dann eine Zeitlang am Stadttheater in Hagen. In den Semesterferien kam ich noch verschiedentlich mit ihm zusammen und sprach mit ihm auf weiten Spaziergängen über Gott und Welt. Vom Arbeitsdienst übrigens war er als untauglich befreit. Er schien mir damals schon zu kränkeln. Als ich Soldat wurde, schrieben wir uns oft und viel, doch in Rußland schlief der Briefwechsel ein. Er kam inzwischen zur Flak, zum Musikkorps des Rgt. 44. Er sprach mir einmal davon, er wollte die Militärmusikerlaufbahn ergreifen, so würde er ohne Kostenaufwand studieren können. Er tat nicht lange Dienst und kam bald in ein Lazarett. Er scheint schwer gelitten zu haben. Das Letzte, was ich von ihm erfuhr, war eine briefliche Äußerung, die Dr. Gaillard mir mitteilte. Aus diesen Worten sprach – ich kann kein anderes Wort nehmen – ein wahrhaft heroischer Geist. Ich bewunderte seine Haltung und bemerkte froh, daß das lange Krankenlager eine

innere Wandlung in ihm bewirkt hatte. Ich glaube, der Schmerz hat ihn geläutert und seinen gequälten Geist befreit. Möge er ruhen in Frieden!

Ich wollte, ich hätte etwas von seiner Unruhe. Gern wiegt man sich in ein Sicherheitsgefühl, das trügerisch ist. Vielleicht hatte er mir das eine voraus, daß er ehrlicher nach Erkenntnis drang und seine Existenz zum Pfand gab.

„Unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in Dir, o Gott!“

Meine Lieben! Beten wir füreinander, daß Gott der Welt und uns selbst den inneren Frieden schenken möge, wenn nicht jetzt – denn das Leben ist Kampf – so doch in einigen Stunden unseres Lebens und in unserem Sterben.

Es grüßt Euch herzlich

Euer Gisbert